Wenn ein "Experte" den Boden unter den Füssen verliert
Gilbert Doctorow bei Judge Napolitano - „Eitelkeit ist der Schatten, den die Unzulänglichkeiten werfen.“

Wenn ein "Experte" den Boden unter den Füssen verliert

Gilbert Doctorow – selbsternannter Russlandexperte – manövriert sich mit unbelegten und wirren Theorien ins Abseits.
Denis Dobrin / Peter Hänseler / Andreas Mylaeus
So. 19 Okt 2025 4923 24

Einleitung

Gilbert Doctorow, der sich selbst «Sowjetologe» nennt und sich für den einzigen echten Russland-Experten in den unabhängigen Medien hält, hausiert seit einigen Tagen mit Theorien, die selbst abgebrühte politische Kommentatoren sprachlos machen.

In einem Beitrag auf seinem «Armageddon Newsletter» auf Substack vom 1. Oktober 2025 verstieg er sich auf die These, im Moskauer Kreml stehe eine Palastrevolution bevor und die russische Gesellschaft sehe Wladimir Putin zunehmend als einen verhassten Gorbatschow 2.0. Auch macht er wohlfeile Vorschläge für eine Nachfolge für den russischen Präsidenten, dessen Regierungsschiff inzwischen zu viele Seepocken angesetzt habe und zu schwerfällig geworden sei.

„Eitelkeit ist der Schatten, den die Unzulänglichkeiten werfen.“

Dies ist derart abstrus, dass man es eigentlich kopfschüttelnd ad acta legen könnte. Allerdings befeuern solche Aussagen gefährliche Tagträume amerikanischer und europäischer Kriegstreiber, die sich trotz aller gegenteiligen Realität der Phantasie verschrieben haben, die eingebildete Schwäche Russlands ausnützen zu können. Dabei werden sie sich gerne auf einen amerikanischen Historiker mit jahrelanger Erfahrung in der Sowjetunion stützen, der sich zudem prominent öffentlich einen Professorentitel zuschreiben lässt, den er gar nicht besitzt – sein wissenschaftliches Palmarès erschöpft sich in einem Ph.D. in Geschichte. Weiter hat er keine aktuellen relevanten direkten Quellen in Russland ausser seinen viel geliebten Talkshows des russischen Staatsfernsehens.

Die wirren Gedanken Doctorows

Talkshows des russischen Staatsfernsehens als Quelle

Seine Theorien gründet dieser «Experte» auf einer aus seiner Sicht scharfen Kritik an Präsident Putin wegen dessen Propagierung der Strategie des Abnützungskrieges in der Ukraine im russischen Staatsfernsehen.

Üblicherweise ultra-loyale pro-Putin Talkshows wie «Sechzig Minuten» und «Abend mit Vladimir Solowjow» würden die russische Gesellschaft darauf vorbereiten, dass Putin abgelöst und durch eine deutlich aggressivere Figur auf dem Kreml-Schachbrett ersetzt werde.

Die russische Gesellschaft verlange nämlich mehrheitlich – oder verdiene es wenigstens – eine deutlich härtere Gangart gegenüber dem Westen. Es müsse endlich der längst fällige Enthauptungsschlag gegen das Kiewer Neo-Nazi-Regime geführt und damit dem Westen gezeigt werden, dass Russland in Wahrheit kein «Papiertiger» sei. Denn sonst würde der Westen immer schärfer eskalieren – bis hin zum Atomkrieg, der uns dann bevorstehe.

Verbale und andere Provokationen

Donald Trump liess vor 800 versammelten Generälen und Spitzenoffizieren des US-Militärs auf einem Stützpunkt außerhalb von Washington, D.C., verlauten, wie enttäuscht er sei, dass Putin zu Beginn der russischen militärischen Sonderoperation die Ukraine nicht innerhalb einer Woche besiegt habe, dass die in Positionen nahe Russland entsandten US-Atom-U-Boote den russischen U-Booten technologisch 25 Jahre voraus seien und dass Russland im Allgemeinen wie ein „Papiertiger“ wirke. Weiter wiederholte J.D. Vance in einem Interview auf Fox News die alte Mär, dass die russische Wirtschaft am Boden liege und dass die territorialen Gewinne der russischen Armee in der Ukraine unbedeutend seien.

Doctorow behauptet, Russland habe auf diese und andere Provokationen nicht angemessen reagiert, damit seine Schwäche demonstriert und zu einer weiteren Eskalation seitens des Westens eingeladen.

Weiter habe Russland auf die amerikanische Eskalation betreffend Waffenlieferungen mit dem Ziel, den Russen eine strategische Niederlage zuzufügen, viel zu zögerlich und zurückhaltend reagiert und sich statt dessen auf einen langwierigen Abnutzungskrieg und aussichtslose Verhandlungen mit den USA verlegt. Doctorow bezeichnet dies als eine strategische Fehlentscheidung Putins.

Der Vorwurf der Appeasement Politik

Weiter spricht diese Kassandra, dass Putin angesichts all dessen keine klare Kante gezeigt habe, sondern sich mit Donald Trump auf einem gefährlichen Schmusekurs befinde. Dieser habe bereits bei den Treffen mit Steve Witkoff am 25. April 2025 und am 6. August 2025 in Moskau und unmittelbar anschliessend am 15. August 2025 mit Trump in Alaska begonnen.

Derartige Verhandlungsbemühungen seien Wasser auf die Mühlen der westlichen Kriegstreiber, weil Russland sich dabei der vergeblichen Illusion hingebe, mit solchen Verhandlungen könnte der Krieg des kollektiven Westens beigelegt werden. Dies deute der Westen wiederum als Schwäche Russlands.

Auch bei seiner Rede am Valdai-Treffen am 2. Oktober 2025 in Sotschi sei Putin – wie auch schon früher immer wieder – den brennendsten Problemen mit dem Westen ausgewichen. Europa rüste auf und bereite sich aktiv auf einen Krieg gegen Russland vor, der in drei Jahren (sic!) beginnen solle. Weiter versuche Europa derzeit, Russland im Baltikum mit einer Luft- und Seeblockade zu belegen und werde der Ukraine wohl einen Kredit in Höhe von 145 Milliarden Dollar gewähren, wobei eingefrorene russische Vermögenswerte als Sicherheit dienen würden, damit Kiew den Krieg noch einige Jahre fortsetzen könne. Schliesslich würden die Vereinigten Staaten Kiew wohl mit nuklearfähigen Tomahawk-Marschflugkörpern mit grosser Reichweite ausstatten, die Moskau vom ukrainischen Territorium aus erreichen könnten.

Statt mit Donald Trump Süssholz zu raspeln, verlange die russische Öffentlichkeit, dass ihre Führung endlich Rückgrat zeige, indem sie etwa die deutsche Produktionsstätte für Taurus-Raketen zerstöre oder die ukrainische Führungsspitze einschliesslich Selenski mithilfe des Oreschnik-Systems enthaupte, um den Krieg jetzt endlich zu beenden, bevor er in einen dritten Weltkrieg eskaliere.

Alarmistische Panikmache

 „Wir steuern auf jeden Fall auf den Dritten Weltkrieg zu. Wenn Putin weiterhin ‚Zurückhaltung‘ zeigt, wie zuletzt bei seiner Unterwürfigkeit gegenüber Trump, wird er abgesetzt und durch russische Kriegstreiber ersetzt werden, und dann geht es los ... Wenn er Trump jetzt nicht die Zähne zeigt, sind wir alle verloren.“
Gilbert Doctorow am 14. Oktober 2025

Putin werde in der russischen Gesellschaft bereits als „Gorbatschow 2.0“ angesehen. Für seinen Rauswurf sei es höchste Zeit. Die in Umfragen bestätigte Popularität von Wladimir Putin (kürzlich angeblich gefallen von 80% auf 79%!) beruhe lediglich darauf, dass bei diesen Umfragen die falschen Fragen gestellt würden – würde die russische Bevölkerung gefragt, ob Putin den Krieg in der Ukraine richtig führe, wären seine Umfragewerte deutlich negativ.

Was bewirken derartige Äusserungen?

Diese abenteuerliche sogenannte „sowjetologische“ Theorie hat keinerlei faktische Grundlage, sondern entspringt einem gefährlich hyperventilierenden Gehirn, das zum Grössenwahn neigt.

In Russland finden solche Propagandaschimären keinen Rückhalt; einen Einfluss auf die russische Politik haben sie nicht.

Wenn wir hier trotzdem darauf eingehen, dann deshalb, weil dieses Gerede denjenigen Kräften in den USA und Europa, die ständig davon reden, dass Russland schwach sei und ein Regimewechsel bevorstehe, Aufwind gibt. Die russophoben amerikanischen und europäischen Kriegstreiber könnten sich darauf beziehen, dass sogar ein ihnen gegenüber kritisch eingestellter Russlandexperte davon ausgeht, dass „Putins Thron wackle“ und man nur noch etwas mehr ausharren müsse, bis das russische Volk seinen „König“ stürze.

Die Realität

Die Russen sind nicht provozierbar

Die Russen richten sich nicht nach solchen Provokationen. Sie lassen sich nicht mit diesen Attacken aus dem Arsenal der kognitiven Kriegsführung ködern. Sie sind Profis. Sie schauen auf die Landkarte, sie schauen auf die Zahlen. Die militärischen Profis achten darauf, was sich auf der Ebene der tatsächlichen Operationen ergibt, sie kennen ihre Statistiken und verstehen etwas von wissenschaftlicher Wahrscheinlichkeitstheorie und von der Analyse der Kräfte und Mittel (Correlation of Forces and Means – COFM). Die Stärke oder Schwäche Russlands bestimmt sich nicht nach dem vollmundigen Geschwätz verlogener, korrupter westlicher Politiker, sondern nach den Fakten – und diese sind eindeutig.

Russland habe nicht auf das Übertreten roter Linien seitens des Westens angemessen reagiert? Russland hat zweimal eine gesamte vom Westen ausgerüstete und finanzierte quasi-NATO-Armee der Ukraine zerstört und zerstört gerade im Zuge seines Abnutzungskrieges gegen den Westen die dritte und letzte solche Armee. Russland zerstört die ukrainische Infrastruktur und deren Rüstungsindustrie. Russland gewinnt den Krieg.

Wozu dann „Enthauptungsschläge“ gegen das Nazi-Regime in Kiew? Dies würde Russland auf den Pfad zu einer gänzlich anderen Kriegsführung bringen, nämlich auf den Pfad einer erheblichen Eskalation mit einem anderen Ausgang des Krieges als er von Russland derzeit angestrebt wird. Russland versucht nicht, die NATO physisch zu zerstören oder Europa zu besetzen.

Die territorialen Ziele Russlands aus der ukrainischen Sicht

Russland versucht vermutlich, die alte Kiewer Rus wieder zu Russland zurückzuführen, um die existentielle Gefahr für das russische Staatsgebiet zu bannen, die von der Aggression aus Kiew auf Geheiss der USA, Europas und des kollektiven Westens ausgeht – mehr nicht. Und dieses Ziel wird Russland im Rahmen seines eigenen Zeit- und Operationsplans erreichen.

Wladimir Putin hat aus gutem Grund eine Zustimmungsquote von um die 80% - und dies seit 25 Jahren. Wo hat es jemals in der Weltgeschichte einen Umsturz – und sei es auch „nur“ eine Palastrevolution – bei solchen Zustimmungswerten gegeben? Unsere Kassandra hat Geschichte studiert, müsste dies also auch wissen.

Russlands wirtschaftliche Stärke

Russland dominiert auch wirtschaftlich. Seine Wirtschaft wächst stetig trotz erheblicher Kriegsanstrengungen.

Auch bezüglich seiner Aussagen über die russische Wirtschaft liegt Doctorow komplett falsch. Etwa behauptet er, dass sich die Löhne in Russland vervielfacht hätten und die Bevölkerung somit künstlich ruhiggestellt würde – ein kompletter Unsinn: Bestimmte Berufe (z.B. Lkw-Fahrer und Sicherheitspersonal) verzeichneten enorme Gehaltssteigerungen. Viele solche Beschäftigte waren Veteranen. Sie sind wärend des Krieges zur Armee zurückgekehrt, was große Lücken hinterlassen hat, die geschlossen werden mussten. Dies war naturgemäss kostspielig. Die meisten anderen Menschen haben jedoch keine doppelten oder dreifachen Gehälter erhalten. Im Dezember 2024 lag der durchschnittliche Monatslohn um 21,9 % über dem Vorjahreswert, was den schnellsten Lohnanstieg seit 2008 darstellt. Im Januar 2025 stiegen die Reallöhne um 6,5 % gegenüber dem Vorjahr, während die Nominallöhne um ~17,1 % stiegen.

Russlands militärische Stärke

Ernstzunehmende Kommentatoren (vgl. auch hier) und militärische Fachleute wie Douglas Macgregor, Lawrence Wilkerson, Jacques Baud und Ralph Bossard (nur um einige zu nennen) wissen, dass die russische Militärtechnologie quantitativ (nach ihren Produktionskapazitäten) und technologisch teilweise um mindenstens eine Generation dem westlichen Bündnis überlegen.

Russlands internationale Stärke

Von einer internationalen Isolierung Russlands kann keine Rede sein. Die Liste der internationalen Vereinigungen, mit denen Russland vernetzt ist, ist beeindruckend: BRICS, die Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ/SCO), die Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS/CSTO), die Eurasische Wirtschaftsunion (EAWU/EAEU), die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS), der Arktische Rat, die Organisation für Islamische Zusammenarbeit (OIC – Beobachterstatus) und als Dialogpartner der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit (ECO). Auch der globale Süden und ganz Asien vertiefen die wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen mit Russland.

Missverstandene interne Kontroverse

Letzthin war von einer Kontroverse innerhalb des russischen Führungsteams die Rede. Der stellvertretende russische Außenminister Sergei Rjabkow hatte am 8. Oktober 2025 in seiner Rede in der Staatsduma erklärt, dass die Triebkraft, die die beiden Staatsoberhäupter Russlands und der USA beim Gipfeltreffen in Anchorage, Alaska, zum Abschluss von Vereinbarungen geschaffen haben, im Wesentlichen aufgebraucht sei. Dieses negative Ergebnis sei hauptsächlich auf die destruktiven Aktivitäten der Europäer zurückzuführen.

Manche Kommentatoren haben diese Aussage als Anzeichen dafür gesehen, dass es im Kreml unversöhnliche kontroverse Positionen gebe. Dies ist abwegig. Sie verstehen den kollektiven Führungsstil der russischen Regierungskreise nicht. Unterschiedliche Nuancierungen und Schwerpunkte bei politischen Aussagen sind Teil der internen Meinungsbildung. Wer hier das alte sowjetische sklerotische Modell zugrunde legt und dies als «Sowjetologie» bezeichnet, stülpt dem modernen Russland eine gänzlich unpassende Schablone über und geht infolge dessen in seiner «Analyse» grundsätzlich fehl.

Aussenpolitischer Ansatz gegenüber den USA: «Speak softly and carry a big stick.»

Natürlich kennen die Russen diesen alten Spruch, und sie wissen, dass die USA nur ihre eigene Sprache verstehen. Theodore Roosevelt, der 26. Präsident der Vereinigten Staaten, verwendete diesen Ausspruch erstmals öffentlich 1901 in einer Rede an der Minnesota State Fair: “Speak softly and carry a big stick; you will go far.” („Sprich sanft und trage einen grossen Knüppel; du wirst weit kommen.“) Der Satz wurde zu einem Leitspruch seiner Außenpolitik: Konflikte möglichst diplomatisch lösen („speak softly“), aber stets die Macht haben, die eigene Position durchzusetzen („big stick“).

Vorstehend wurde klargestellt, dass Russland über einen unübersehbar grossen Knüppel verfügt.

Das Tor zu Verhandlungen offen lassen

Von dieser Position der Stärke spielt Russland auch eine seiner grössten Stärken aus – die Fähigkeit zu professioneller Diplomatie. Seine aussenpolitische Grundlinie gegenüber den USA kommt in dieser Rede von Präsident Putin vom 2. Oktober 2025 in Sotschi beim Valdai Club zum Ausdruck:

«Unsere Länder haben bekanntlich viele Meinungsverschiedenheiten, und unsere Ansichten zu vielen globalen Fragen prallen aufeinander. Für Großmächte ist das normal, ja sogar selbstverständlich. Entscheidend ist, wie diese Meinungsverschiedenheiten beigelegt werden können und inwieweit sie friedlich gelöst werden können. (...)
"Russland behält sich auch das Recht vor, sich von seinen nationalen Interessen leiten zu lassen, zu denen übrigens auch die Wiederherstellung umfassender Beziehungen zu den USA gehört. Und ungeachtet der Differenzen: Wenn wir einander mit Respekt begegnen, werden Verhandlungen – selbst die härtesten und hartnäckigsten – letztlich zu einem Konsens führen, was letztlich für beide Seiten akzeptable Lösungen ermöglicht."
"Multipolarität und Polyzentrismus sind langfristige Realitäten."
Vladimir Putin am 2. Oktober 2025 in Sotschi

Derartiges lässt sich nicht im Hau-Ruck-Verfahren und schon gar nicht mit hitzköpfiger Kraftmeierei erledigen. Man muss dabei die gesamte Welt im Auge behalten. Wir können von Glück sagen, dass der Regierungschef der stärksten Militärmacht der Welt ein derart besonnener, in sich ruhender, ausgeglichener Mensch mit Überblick ist.

Fazit

Vergleicht man die Aussagen Doctorow’s mit überprüfbaren Fakten, so wird klar, dass sich die Thesen dieses selbsternannten Russlandexperten als kompletter Unsinn entpuppen. Die letzten Entwicklungen (Putins Telefongespräch mit Trump und der anschliessende Rückzug Trumps von dem Plan, Tomahawks an die Ukraine zu liefern) sind Beweis genug.

24 Kommentare zu
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