 
                Schlechte Ratgeber aus der Vergangenheit
Spätestens seit dem ergebnislosen Abbruch der ukrainischen Sommeroffensive vor zwei Jahren müsste eigentlich klar sein, dass der russisch-ukrainische Krieg irgendwann durch Verhandlungen beendet werden muss, zumal im westlichen Lager zumindest die USA nicht bereit sind, den Konflikt unbegrenzt zu eskalieren.
Wer um die Jahreswende 2021/2022 einen Vergleich der Kräfte Russlands und der Ukraine anstellte und Aufgaben, Mittel und Räume beurteilte, musste zur Erkenntnis kommen, dass irgendwann eine militärische Pattsituation eintreten musste, die zu Verhandlungen zwingen würde. Gerade die nüchterne Beurteilung der Kräfte und Möglichkeiten der russischen Armee hatte die Schlussfolgerung nahegelegt, dass es Russland nicht möglich sein werde, die gesamte Ukraine zu erobern. Ihre Offensivkraft damals reichte bis maximal 200, vielleicht auch 300 km über die Grenzen Russlands oder seiner Verbündeten hinaus (1). Diese Linie haben die Russen selbst nach den spektakulären und teilweise überraschend tiefen Vorstöße im März 2022 nie ganz erreicht.

Der ukrainische Einfall in die Region Kursk wurde offenbar auch auf Betreiben von Beratern aus der NATO unternommen damit der ukrainische Präsident Zelensky russisches Territorium in die Hand bekomme, das er als Verhandlungsmasse gegen russisch besetzte Gebiete austauschen kann. Ein solches Unternehmen machte nur Sinn, wenn sowohl Kiew wie Brüssel davon ausgingen, dass Verhandlungen früher oder später geführt werden müssen. Unbeirrt davon hat die russische Armee aber ihren im Februar 2014 beginnenden Vormarsch langsam aber stetig fortgesetzt und macht vorerst keine Anstalten, diesen anzuhalten. Auch wenn territoriale Maximalforderungen militärisch nicht umzusetzen sind, ist der Kreml derzeit offensichtlich entschlossen, bis an die Grenze des Machbaren zu gehen. Ob dies den Landkarten entspricht, die seit einigen Wochen kursieren und angeblich Auskunft darüber geben, welche Gebiete Russland sich bis zum Ende dieses Krieges noch einverleiben wolle, ist fraglich (2). Sie entsprechen einer westlichen Interpretation.

Hoffen auf die Entscheidungsschlacht?
Seit dem Abbruch der Waffenstillstandsverhandlungen in Istanbul ist ein Abnützungskrieg in Gang, in welchem Westeuropa versucht, der an Ressourcen unterlegenen Ukraine seine Ressourcen zur Verfügung zu stellen – mit Ausnahme der personellen – damit diese den Krieg weiterführen kann. In diesem Krieg ist trotz allen Medien-Gedöns eine Wende durch eine Entscheidungsschlacht oder einen entscheidenden Schlag kaum mehr zu erwarten. Vielmehr geht es dem Westen erklärtermaßen darum, die Ukraine in eine möglichst günstige Verhandlungsposition zu bringen und Russland noch größtmöglichen Schaden zuzufügen. Mehr ist wohl nicht mehr drin.
Überhaupt scheint es, dass der Westen in den letzten Jahren die Ziele Russlands im Krieg in der Ukraine nie richtig eingeschätzt. Das hat mehrere Gründe: Zum einen hat man nie zugehört, wenn russische Offizielle ihre Erklärungen abgaben und wenn man ihnen trotzdem zuhörte, tat man ihre Verlautbarungen als Propaganda ab. Andererseits kennt man das militärische Denken der Russen nicht oder interpretiert es durch westliche Konzepte, insbesondere durch die Brille des preußischen Generals und Militärtheoretikers Carl von Clausewitz. Man hat die eigenen Ambitionen in den Kriegen der vergangenen 30 Jahren den Russen in der Ukraine unterstellt. So kommen bis heute gewaltige Fehlbeurteilungen zustande, die zu korrigieren schon fast nicht mehr möglich ist, weil das einen Gesichtsverlust bedeuten würde.
Ziel und Zweck im Krieg
Am häufigsten wird Clausewitz mit der Aussage zitiert, der Krieg sei die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Dieses Zitat – oder vielmehr die falsch verstandene Umsetzung davon – hat in der Geschichte schon viel Unheil angerichtet, indem es Politiker, Diplomaten und Militärs zur Annahme verleitete, dass diplomatische Verhandlungen und militärische Kampfhandlungen sequentiell aufeinander folgen. Wenn die eine Methode keinen Fortschritt mehr erzielt, dann müsse man es halt eben mit der anderen versuchen. Obwohl der Briand-Kellogg-Pakt von 1928 Regierungen diese Wahlfreiheit nicht mehr zugesteht, muss die argentinische Junta unter Leopoldo Galtieri 1982 der Auffassung gewesen sein, nach schleppend verlaufenen Verhandlungen mit den Briten über die Zugehörigkeit der Falkland-Inseln ein militärisches Unternehmen beginnen zu dürfen, welches von der Weltgemeinschaft akzeptiert würde (4).
Wichtiger ist vielleicht eine andere Aussage von Clausewitz: Er widmete ein ganzes Kapitel seines berühmten Werks "Vom Kriege" aus dem Jahr 1831 der Frage von Zweck und Ziel eines Kriegs: Wer einen solchen führe, müsse wissen, was er mit und in seinem Krieg erreichen wolle. Das ist keineswegs eine akademische Frage, denn von der Antwort hängt der Zeitpunkt ab, an welchem eine kriegführende Macht aus dem Krieg aussteigt oder ihre Kriegsziele anpasst. Wer in Verhandlungen mit seinem Kriegsgegner eintritt, sollte über Zwecke und Ziele informiert sein, welche dieser verfolgt bzw. anstrebt. In einer Zeit, in welcher all jene, die sich Überlegungen zu den Beweggründen Russlands im Ukraine-Krieg anstellen, als Putin-Versteher abgestempelt werden, ist wenig wahrscheinlich, dass eine realistische Bewertung zustande kommt. Die Folgen einer Fehlbeurteilung könnten aber fatal sein in einer Lage, in welcher nichts Geringeres droht, als ein Atomkrieg.
Das Dogma der Entscheidungsschlacht
Clausewitz' Hauptwerk "Vom Kriege" beruht auf seinen militärhistorischen Kenntnissen und auf den Erfahrungen die er als Beteiligter an den Kriegen seiner Zeit selbst machte. Letztere – konkret der Zweite, Dritte, Vierte und Fünfte Koalitionskrieg – waren alle innerhalb von wenigen Wochen in großen Entscheidungsschlachten entschieden worden. Daraus entstand das Konzept der Entscheidungsschlacht – der raschen, vernichtenden Schlacht – das seit jener Zeit als Modellfall für die Kriegführung gilt (5).
Ein erster Eckpunkt in den Erfahrungen des Carl von Clausewitz ist der Feldzug von 1806, in welchem die preußische Armee in der Doppelschlacht von Jena und Auerstedt geschlagen wurde (6). Damit war der Vierte Koalitionskrieg im Wesentlichen entschieden. Zwar kämpften einzelne Teile der geschlagenen preußischen Armee monatelang weiter, vermochten das Resultat des Kriegs aber nicht mehr zu ändern. Nachdem die Festungen Breslau, Brieg, Glogau, Danzig, Glatz und Neisse gefallen waren und die Franzosen Ostpreußen erreicht hatten, musste der preußische König im Juli 1807 den Friedensvertrag von Tilsit unterschreiben (7).
Es war dieser Glaube an die Entscheidungsschlacht, welcher Napoleon im Juni 1815 in Eilmärschen nach Belgien trieb und es war wohl dieselbe Eile, die ihn veranlasste, nach zwei erfolgreichen, aber nicht entscheidenden Schlachten bei Quatre Bras und bei Ligny am 16. Juni 1815 schon zwei Tage später südlich von Brüssel unter eigentlich ungünstigen Voraussetzungen eine Schlacht zu riskieren (8). Wellingtons Armee stand bei Waterloo in einer starken Stellung und heftige Regenfälle hatten das Terrain derart aufgeweicht, dass die Wirkung der französischen Artillerie beschränkt war (9). Trotzdem suchte Napoleon das Gefecht – und unterlag.
Als eine der wohl bekanntesten Schlachten der Weltgeschichte hat die Schlacht von Waterloo die Wahrnehmung einer breiten Öffentlichkeit in Europa geprägt und steht wohl bis heute Pate zum westlichen Verständnis des Siegs in einem Feldzug, obwohl eigentlich weder der Erste noch der Zweite Weltkrieg durch einzelne Schlachten oder Operationen entschieden wurden, sondern durch lang dauernde Feldzüge, die in eigentliche Abnützungskampagnen mündeten.
Betriebsunfälle der Kriegsgeschichte?
Die Deutschen waren aber nicht die einzigen oder die ersten, welche dem Dogma der Entscheidungsschlacht huldigten. Schon im alten China soll Sun Tzu einer der Verfechter dieses Dogmas gehört haben. Zumindest wird ihm der Ausspruch zugeschrieben, wonach der Krieg den Sieg liebe und nicht die Dauer (10). Aber auch das alte China erlebte eine andere Realität: Das Zeitalter der streitenden Reiche dauerte über 200 Jahre, und endete erst, als das Reich Qin über seine sechs Konkurrenten obsiegte und sich als führende Macht etablierte.
Die Schüler des Carl von Clausewitz planten immer wieder kurze Feldzüge mit rascher Entscheidungsschlacht. Typisch dafür war der Deutsch-Französische Krieg von 1870/71, der nach der Schlacht von Sedan am 1./2. September 1870 de facto entschieden war, obwohl in Paris nach der Gefangennahme Napoleons III. die Republik ausgerufen wurde, welche den Krieg noch einige Monate fortsetzte. Aber nach Sedan waren auch hastig neu aufgestellte und aus den Resten der geschlagenen Armee zusammengewürfelte neue Armeen nicht mehr in der Lage, das Blatt zu wenden. Dieser Krieg blieb die beherrschende Kriegserfahrung der Deutschen, die es geradezu als Betriebsunfall der Kriegsgeschichte betrachten mussten, dass 1914 die geplante Niederwerfung Frankreichs innerhalb der sechs Wochen, welche der Schlieffenplan vorsah, nicht gelang. Danach begann ein langer, zermürbender Abnützungskrieg, der derartige personelle Verluste forderte, dass die Folgen in der Demografie Frankreichs und Deutschlands noch Jahrzehnte lang sichtbar blieben.
Über den Kulminationspunkt hinaus
Eine zweite persönliche Erfahrung des Carl von Clausewitz, die er bereits auf russischer Seite machte, war hingegen der Sechste Koalitionskrieg, der 1812 mit Napoleons Feldzug gegen Russland begann. Dieser Feldzug, der in Russland als der Vaterländische Krieg bekannt ist, ging für den Korsen verloren, weil es ihm nicht gelungen war, die Russen zur Entscheidungsschlacht zu stellen. In der Schlacht von Borodino am 7. September 1812 traten die Russen den Rückzug an, bevor es Napoleon gelungen war, ihnen die entscheidende Niederlage beizubringen. Nicht einmal die Einnahme Moskaus vermochte den Zaren zu einer Kapitulation zu bewegen. Dieser Feldzug mag Clausewitz dazu bewegt haben, seine Theorie vom Kulminationspunkt zu entwickeln, welche in den Köpfen der NATO-Planer noch heute umhergeistert. Der Kulminationspunkt eines Krieges bezeichnet den Höhepunkt, an dem die Kämpfe am intensivsten sind und beide Seiten bis an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit gehen. Wenn dann eine der Seiten einbricht, verändert sich die Lage oftmals schnell und radikal.
Auch am Beispiel der Schlacht von Waterloo kann man über den Kulminationspunkt sprechen, denn im Glauben, dass der Einsatz der Alten Garde noch die Entscheidung herbeiführen könne, gab Napoleon gegen Abend noch seine letzte Reserve aus, die als einzige noch einen geordneten Rückzug hätte decken können. Als die Alte Garde geschlagen war, standen keine Truppen mehr zur Verfügung, welche die Armeen der verbündeten Briten, Niederländer, Norddeutschen und Preußen hätten daran hindern, die französische Armee "bis zum letzten Hauch von Mann und Ross" zu verfolgen und zu zerschlagen (11).
Clausewitz vs. Vo Nguyen Giap
Clausewitz' Ideen prägten Generationen von Militärs bis hin zu den NATO-Planern des 20. Jahrhunderts. Die Vorstellung eines kurzen, entscheidenden Krieges ist und bleibt dominant. Heutige NATO-Beurteilungs- und Planungsverfahren beinhalten ganz wesentlich die Erfahrungen der beiden Feldzüge im Irak in den Jahren 1991 und 2003, in welchen eine Koalition der Willigen innerhalb von Tagen die Entscheidung in kurzen Bodenoffensiven herbeiführte, nachdem diese mehre Wochen lang durch Luftangriffe vorbereitet worden war. Diese Feldzüge, obwohl in ihrer Kürze untypisch für die Kriege seit 1914, haben wohl das Bewusstsein von Öffentlichkeit und Politik im Westen geprägt und nun wundert man sich über den Verlauf des Kriegs in der Ukraine.
Bedingt durch seine beschränkten Ressourcen suchte auch Israel in den Kriegen von 1956, 1967 und 1973 jeweils die rasche Entscheidungsschlacht. Darüber hat sich der deutsch-israelische Militärhistoriker und Brigadegeneral Jehuda Wallach ausgelassen (12). Seine Überlegungen hätten Israel seit vielen Jahren als Warnung dienen können: Israel wird seine Sicherheit nicht ausschließlich mit kurzen Feldzügen und rasch herbeigeführten Entscheidungsschlachten gewährleisten können, denn Israels Feinde haben dazugelernt. Seit dem Aufstand der Palästinenser nach 1987 – der sogenannten ersten Intifada – steckt Israel in einem Krieg gegen geschworene Feinde, die mit großer strategischer Geduld vorgehen. Dagegen sind blitzkriegartige Vorstöße von Panzerverbänden, Luftangriffsoperationen und sogar Kernwaffenschläge kein wirksames Mittel.
Seit Ende des Zweiten Weltkriegs konnten westliche Streitkräfte kaum je einen der lang andauernden Kleinkriege gewinnen, die insbesondere im Zuge der Dekolonialisierung von Befreiungsbewegungen und jungen Staaten geführt wurden. In langwierigen Konflikten – am bekanntesten ist jener in Vietnam, der jüngste ist jener in Afghanistan – versagte das Konzept des kurzen Kriegs durch die rasche Entscheidungsschlacht. Der bekannteste Stratege des Abnützungskriegs ist der legendäre vietnamesische General Vo Nguyen Giap (13). Der Wunsch, lange Abnützungskriege zu vermeiden, steht bis heute im Zentrum des Interesses westlicher Strategen. Er mag Anlass zur Entwicklung der Doktrin der Luftkriegsführung gegen die "Fünf Kreise" des US-Colonel John Warden gegeben haben, die richtungsweisend ist derzeit.
Strategische Geduld
Aber schon lange vor den Kriegen der französischen Revolution stellte der kurze, von einer Entscheidungsschlacht geprägte Feldzug eher den Regelfall als die Ausnahme dar. Um die 150 Jahre vor diesen hatten die Feldherren des Habsburger-Kaisers Leopold I. in den Feldzügen des Großen Türkenkriegs 1683 bis 1699 die strategische Geduld an den Tag gelegt, die Napoleon so sehr abging.
Im Unterschied zu Napoleon und zu Clausewitz waren sich Feldherren im 17. und 18. Jahrhundert, wie beispielsweise Prinz Eugen von Savoyen und Markgraf Ludwig von Baden daran gewöhnt, eine Entscheidungsschlacht nicht bei des schnellsten sich bietenden Gelegenheit zu suchen, sondern bei Vorliegen günstiger Umstände. Sie entschieden ihre Feldzüge gegen das Osmanische Reich nicht durch überstürzte Angriffe, sondern durch taktisches Abwarten und promptes Ausnutzen gegnerischer Schwächen. Die Siege der Kaiserlichen bei Slankamen 1691 (14) und bei Zenta 1697 (15) zeigen, dass Geduld und operative Flexibilität oft wirksamer sind als der Drang zur schnellen Entscheidungsschlacht.
Sehr viel Geduld bewies der Markgraf Ludwig von Baden – auch Türkenlouis genannt – in den Tagen vor der Schlacht von Slankamen am 19. August 1691. Ludwig betrachtete seine Armee gegenüber dem zahlenmäßig stärkeren türkischen Feind als an Kampfkraft überlegen und er vermied eine Schlacht, nachdem die Türken sich in einer staken befestigten Position verschanzt hatten, welche Ludwig nicht angreifen konnte, ohne ein großes Risiko einzugehen (16). Um die Türken zu einer offenen Feldschlacht zu verleiten, manövrierte er seine Armee deshalb in eine vermeintlich schwache Position. In der anschließenden Schlacht mussten die Türken derart hohe Verluste einstecken, dass sie danach für lange Zeit zu offensiver Kriegführung nicht imstande waren.
Geduld und Entschlossenheit im richtigen Moment bewies der österreichische Feldherr Prinz Eugen von Savoyen vor der Schlacht von Zenta im heutigen Serbien am 11. September 1697. In den letzten Tagen des Feldzugs erkannte er ein Schwächemoment der Türken, als diese sich abschickten, vom Kriegsschauplatz abzuziehen und in die Winterquartiere abzurücken. Eugen, der grundsätzlich den Auftrag hatte, defensiv zu bleiben, suchte die Schlacht in dem Moment, als er sah, dass sein zahlenmäßig überlegener türkischer Gegner im Begriff war, die Theiss zu überschreiten. Im Verlauf der Übergangsaktion waren die beiden auf gegenüberliegenden Ufern des Flusses befindlichen Teile des türkischen Heers nicht in der Lage, einander gegenseitig zu unterstützen (17). Dieses Schwächemoment nutzte Eugen entschlossen aus, um die türkische Armee zu zerschlagen und ihr Verluste zuzufügen, von denen sich das Osmanen-Reich jahrelang nicht wieder erholen sollte.
Andere Perspektive und anderes Denken
Russisches militärisches Denken ist nicht so einseitig auf Clausewitz ausgerichtet, wie westliches. Clausewitz, der nach der Niederlage Preußens im Krieg von 1806/07 in russische Dienste übertrat, war und ist bis heute in Russland nicht unumstritten. Die rasche Entscheidungsschlacht ist eben nur eine von mehreren Möglichkeiten, die man bei der Anlage einer Operation und eines Feldzuges hat. Die andere ist die Führung eines Abnützungskrieges und man darf im Licht der Aussagen von Wladimir Putin zu Beginn des Kriegs in der Ukraine davon ausgehen, dass die Russen einen Abnützungskrieg von Beginn weg zumindest in Betracht gezogen haben, weil es unter dem Stichwort der "Demilitarisierung" darum ging, die damals zweitstärkste Armee auf dem europäischen Kontinent zu dezimieren und die fanatisch kämpfenden Freiwilligenverbände der ukrainischen Nationalisten zu vernichten (18). Geländegewinne sind dabei zweitrangig, entscheidend ist vielmehr die fortgesetzte Schwächung des Gegners bis zu dem Punkt hin, wo dieser keinen geordneten Widerstand mehr leisten kann. Derzeit schaut es so aus als würde den Russen genau das gelingen. Im Vorfeld von Verhandlungen haben die Russen zwar den Abzug der ukrainischen Truppen aus denjenigen Gebieten verlangt, die sie unter Kontrolle bringen wollen, aber sie wissen, dass sie dieses Ziel erreichen können, indem sie die ukrainischen Kräfte weiterhin schwächen. Wo diese Gefechte stattfinden, ist unerheblich.
Wenn man heute davon ausgeht, dass Russland sich in einem Krieg mit dem an Ressourcen grundsätzlich überlegenen Westen befindet – und diese Auffassung ist in militärischen Kreisen in Russland derzeit die vorherrschende – dann mag ein Abnützungskrieg gegen einen in seiner Handlungsfreiheit eingeschränkten Gegner durchaus Sinn machen. Aus nationaler russischer Sicht kann es trotz des Gebietsgewinns, den die Offensiven seit Herbst 2023 gebracht haben, nicht primär darum gehen, weiteres Territorium zu besetzen, sondern den Kampf vorbereitend weiter zu führen, bis die Zeit reif und die Voraussetzungen günstig sind für die Entscheidungsschlacht.
Aus einer kontinentalen, eurasischen Sichtweise aber ist es jetzt vorteilhaft, vielleicht sogar notwendig, einen Abnützungskrieg zu führen gegen einen Gegner, der in seiner Handlungsfreiheit eingeschränkt ist, weil er seine Schläge gegen Russland nur aus dem Territorium der Ukraine heraus führen kann. Die Führung von Schlägen vom Territorium von NATO-Verbündeten aus würde zweifellos die Gefahr eines globalen Atomkriegs heraufbeschwören, den die USA vermeiden wollen. Darüber hinaus hat Russland mit seiner Kampagne gegen Wirtschaft und Infrastruktur der Ukraine deutlich demonstriert, was mit Ländern geschieht, die sich als Aufmarschraum gehen Russland zur Verfügung stellen: Sie werden verheert.
Schlechte Ratgeber
Die Kampfhandlungen des Frühjahrs 2022 endeten in einem Unentschieden, weil die Ukrainer nicht bereit waren, eine Schlacht im grenznahen Raum anzunehmen, sondern sich weit zurückzogen. Umgekehrt überschritten die Russen damals die Grenzen ihrer militärischen Leistungsfähigkeit nicht und gingen auf Linien zurück, die sie zu halten vermochten. Seither tobt ein Abnützungskrieg, dessen Ende davon abhängt, wer glaubt, eine Entscheidungsschlacht herbeiführen oder einen entscheidenden Schlag führen zu müssen. Wenn eine der Parteien dann Vabanque spielt und seine letzten Reserven einsetzt, dann kann der Kulminationspunkt schnell erreicht sein und die Lage kippen. Fanatismus oder übertriebenes Selbstvertrauen können sich dann gegen den Urheber selbst wenden. In diesem Nervenkrieg erwies sich die russische Seite bisher als sehr geduldig. In einer jahrelang geradezu gezüchteten Atmosphäre, in welcher Verhandlungsbereitschaft grundsätzlich als Schwäche interpretiert wird, ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine der Seiten den richtigen Zeitpunkt zum Ausstieg aus dem Krieg verpasst, hoch (19). Clausewitz könnte sich als sehr schlechter Ratgeber erweisen.
Anmerkungen:
1. Diese Auffassung äußerte der Verfasser 2017 in einem Artikel in der Allgemeinen Schweizerischen Militärzeitschrift ASMZ. Siehe "Leistungsfähigkeit und Einsatzgrundsätze der russischen Armee" bei ASMZ Allgemeine Schweizerische Militärzeitschrift, Nr. 01/02/2017, S. 5-7, online unter https://www.e-periodica.ch/digbib/view?lang=de&pid=asm-004%3A2017%3A183%3A%3A10 und wiederholte sie in einer Sendung des Fernsehsenders Alpenparlament.tv, am 29.01.2022.
2. Siehe "Кремль усиливает претензии. Сальдо озвучил намерения РФ по захвату Днепропетровщины, Херсонщины и Запорожья по оба берега Днепра — ISW", bei NV New Voice, 22.04.2025, online unter https://nv.ua/ukraine/events/rossiya-pretenduet-na-tri-oblasti-ukrainy-po-oboim-beregam-dnepra-kakie-eto-territorii-novosti-ukrainy-50508109.html, auf der Basis einer Karte des Institute for the Study of War.
3. Der Verfasser gab diese Beurteilung in einem Vortrag bei der Redaktion der schweizerischen Zeitung "Zeitfragen" am 18.04.2022 in der Region St. Gallen ab.
4. Nach dem Wahlsieg der konservativen Partei 1979 und der Ernennung von Margaret Thatcher zur Premierministerin wurden die Gespräche zwischen Großbritannien und Argentinien von britischer Seite immer unverbindlicher, so dass bei den Argentiniern der Eindruck entstand, sie sollten auf ewig vertröstet werden. In Buenos Aires ging man damals davon aus, dass die USA Großbritannien in einem Krieg im Südatlantik nicht unterstützen würden. Für eine kurze Übersicht siehe Wolfgang Etschmann: Vor 25 Jahren: Der Krieg um die Falkland-Inseln – ein untypischer Krieg, in Truppendienst, Folge 296, Ausgabe 2, 2007, online unter https://www.bmlv.gv.at/truppendienst/ausgaben/artikel.php?id=565. Zum Briand-Kellogg-Pakt siehe "Briand-Kellogg-Pakt" bei LeMo, Lebendiges Museum Online, 09.05.2025, online unter https://www.dhm.de/lemo/kapitel/weimarer-republik/aussenpolitik/briand-kellogg-pakt.html; englischer Text auf der Webseite der Yale-Universität unter https://avalon.law.yale.edu/20th_century/kbpact.asp.
5. Siehe Carl von Clausewitz: Vom Kriege; hinterlassenes Werk des Generals Carl von Clausewitz, Berlin 1832–1834 (hrsg. von Marie von Clausewitz. Eine elektronische Version des Werks findet sich online unter https://clausewitzstudies.org/readings/VomKriege1832/Book1.htm#1-8.
6. Die aktuell wohl maßgebliche Darstellung stammt von Gerd Fesser: 1806: Die Doppelschlacht bei Jena und Auerstedt (Napoleons Schlachten), Jena 2006. Vgl. "Jena und Auerstedt", bei Preussenweb, 14.10.1806, online unter http://www.preussenweb.de/jena.htm. Experimentelle Dokumentation der Doppelschlacht von Jena und Auerstedt, entstanden 2006/2007 an der Fakultät Medien, Bauhaus-Universität Weimar, online unter https://www.dailymotion.com/related/x747aq/video/x6flxx_1806_videogames?hmz=74616272656c61746564. Siehe auch Carl von Clausewitz: Nachrichten über Preußen in seiner größten Katastrophe (1823/24). In Auszügen abgedruckt in: Gerhard Förster (Hrsg.): Carl von Clausewitz – Ausgewählte militärische Schriften. Berlin 1981, S. 76–124. Zu Carl von Clausewitz siehe Alois Friedel: Carl von Clausewitz und die Auswirkungen seiner Theorie vom Kriege; Gedanken zur 200. Wiederkehr seines Geburtstages am 1. Juni 1980, bei APuZ Aus Politik und Zeitgeschichte 22/1980, auf der Homepage der Landeszentrale für politische Bildung, 31.05.1980, online unter https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/archiv/531604/carl-von-clausewitz-und-die-auswirkungen-seiner-theorie-vom-kriege-gedanken-zur-200-wiederkehr-seines-geburtstages-am-1-juni-1980/.
7. Das Original des Friedensvertrages von Tilsit (französisch, deutsch) im Internet-Portal Westfälische Geschichte, online unter https://www.lwl.org/westfaelische-geschichte/que/normal/que801.pdf. Die Festungen Kolberg, Glatz, Graudenz, Silberberg, Kosel und Pillau vermochten sich bis zum Friedensschluss von Tilsit am 7. Juli 1807 zu halten. Besonders dem Schicksal von Kolberg widmete 1945 die nationalsozialistische Propaganda in einem eigentlichen "Durchhaltefilm" viel Aufmerksamkeit.
8. Siehe Klaus-Dieter Krug: Der Feldzug in den Tagen des 14. Juni bis 19. Juni 1815, auf der Homepage Clausewitz Gedanken von Antonia Drechsler, online unter https://clausewitzgedanken.de/der-feldzug-in-den-tagen-des-14-juni-bis-19-juni-1815/.
9. Über die Schlacht von Waterloo sind zahlreiche Darstellungen geschrieben worden. Die neusten im deutschsprachigen Raum stammen von Klaus-Jürgen Bremm: Die Schlacht: Waterloo 1815, Darmstadt 2025 und von Gerd Fesser: 1815: Waterloo – Napoleons letzte Schlacht (Napoleons Schlachten), Jena 2015. Die bekannteste der zahlreichen Videos und Verfilmungen ist wohl der Film "Waterloo" des sowjetischen Regisseurs Sergej Bondarchuk aus dem Jahr 1970, verfügbar auf YouTube unter https://www.youtube.com/watch?v=D9uL2K5DgkQ, in französischer Sprache.
10. Das Werk "Die Kunst des Krieges" (oder "Sunzi über die Kriegskunst“) von Sun Tzi stellt eines der frühesten Bücher über Strategie dar und gilt bis heute Tage als eines der bedeutendsten Werke zu diesem Thema. Siehe Harro von Senger: Meister Suns Kriegskanon. Aus dem Chinesischen übersetzt und kommentiert von Harro von Senger, Stuttgart 2011. Sun Bin, einer der Schüler von Sun Tzi, schrieb ebenfalls ein Buch über die Kriegskunst: "Sūn Bìn bīngfǎ" – Sun Bin über Kriegskunst.
11. Der Ausspruch stammt aus dem Befehl des preußischen Feldmarschalls Gebhard Leberecht von Blücher, die Franzosen nach der Schlacht bei Waterloo zu verfolgen. Siehe Florian Stark: So tricksten die Preußen Kaiser Napoleon bei Waterloo aus, bei Die Welt, 18.06.2021, online unter https://www.welt.de/geschichte/kopf-des-tages/article231910873/Bluecher-So-tricksten-die-Preussen-Napoleon-bei-Waterloo-aus.html#:~:text=Gebhard%20Leberecht%20von%20Bl%C3%BCcher%20(1742%E2%80%931819)%20war%20nicht%20gerade,beinahe%20in%20die%20Katastrophe%20gef%C3%BChrt.
12. Siehe Jehuda Lothar Wallach: Das Dogma der Vernichtungsschlacht. Die Lehren von Clausewitz und Schlieffen und ihre Wirkungen in zwei Weltkriegen, aus dem Englischen übersetzt von Hans Jürgen Baron von Koskull, hrsg. vom Arbeitskreis f. Wehrforschung, Frankfurt a.M. 1967, sowie Jehuda L. Wallach: Das Dogma der Vernichtungsschlacht., Die Lehren von Clausewitz und Schlieffen und ihre Wirkung in zwei Weltkriegen, München 1970.
13. Siehe "Vo Nguyen Giap – der weltweit brillante General", bei Vietnam im Zeitalter des Aufstiegs, 25.08.2021, online unter https://vovworld.vn/de-DE/politische-aktualitat/vo-nguyen-giap-der-weltweit-brillante-general-1019298.vov. Ein Nachruf: "Vietnam trauert um den "roten Napoleon", bei Spiegel Ausland, 04.10.2013, online unter https://www.spiegel.de/politik/ausland/general-vo-nguyen-giap-in-vietnam-gestorben-a-926161.html.
14. Zur Schlacht von Slankamen siehe "Die Schlacht von Slankamen", bei Karlsruher Türkenbeute, hrsg. vom Badischen Landesmuseum, Karlsruhe, online unter http://www.tuerkenbeute.de/kun/kun_lou/SchlachtSlankamen_de.php. Die wichtigste Quelle dazu: Siegesmeldung Ludwig Wilhelms nach der Schlacht von Slankamen Quelle: Markgraf Ludwig Wilhelm von Baden-Baden (1655-1707), Bericht an Kaiser Leopold I. mit Siegesmeldung bezüglich der Schlacht bei Slankamen, 20. August 1691, Wien, Kriegsarchiv. Feldakten 1691-8-1, online unter https://web.archive.org/web/20160306010756/http://www.tuerkenbeute.de/res/pdf/forschung/nachweise/quellen/Slankamen.pdf. Ein Video dazu " The Great Turkish War: EP6 Battle of Slankamen - Season 1", bei TKHistory documentary auf YouTube, 10.08.2024, online unter https://www.youtube.com/watch?v=8QU4X4VD28E.
15. Zur Schlacht von Zenta siehe Joachim Bahlcke: Die Schlacht bei Zenta und die Eroberung Sarajevos 1697, in: Ostdeutsche Gedenktage. Persönlichkeiten und historische Ereignisse. Jg. 33 (1997), S. 287–293 und Joachim Bahlcke: Schlacht bei Zenta und Eroberung Sarajevos, bei Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen für Wissenschaft und Forschung, 2025, online unter https://kulturstiftung.org/zeitstrahl/schlacht-bei-zenta-und-eroberung-sarajevos. Das Video "Schlacht von Zenta, 1697, die Schlacht, die Napoleon studierte; Eugens Meisterwerk, Teil 3", bei HistoryMarche auf YouTube, 09.12.2022, online unter https://www.youtube.com/watch?v=vfv03lFSxto befriedigt nicht. Vgl. das Video "Battle of Zenta (1697). Great Turkish War (1683-1699)", bei War History auf YouTube, 01.08.2023, online unter https://www.youtube.com/watch?v=KHxbSBOu65s&t=119s.
16. Zum Markgrafen Ludwig von Baden – dem sogenannten Türkenlouis – siehe Christian Greiner: Der „Türkenlouis“ – Markgraf Ludwig von Baden-Baden (1655–1707), in: Militärgeschichtliche Beiträge, Bd. 3, (Hrsg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt), Herford/ Bonn 1989, S. 27–41, sowie "Ludwig Wilhelm, Markgraf von Baden-Baden (Türken-Louis)", in der Deutschen Biographie, online unter https://www.deutsche-biographie.de/sfz54702.html#ndbcontent.
17. Zum Prinzen Eugen von Savoyen siehe "Eugen Prinz von Savoyen" in der Deutschen Biographie, online unter https://www.deutsche-biographie.de/sfz52925.html#ndbcontent. Der Dokumentarfilm "Prinz Eugen und das osmanische Reich, Barock Doku" von Timeline Deutschland auf YouTube, 22.07.2022, online unter https://www.youtube.com/watch?v=DSVuayhisa0 wird den Ereignissen kaum gerecht.
18. Siehe "Kriegserklärung. Die Ansprache des russländischen Präsidenten am Morgen des 24.2.2022", aus dem Russischen von Volker Weichsel und Olga Radetzkaja, bei Osteuropa.de, online unter https://zeitschrift-osteuropa.de/blog/vladimir-putin-ansprache-am-fruehen-morgen-des-24.2.2022/, russische Originalrede auf der Homepage des Kreml, online unter http://kremlin.ru/events/president/news/67843.
19. Der Verfasser konnte das Entstehen dieser Atmosphäre während seiner Tätigkeit am Sitz der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa OSZE in Wien jahrelang selbst verfolgen.
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