Belarus aus der Sicht der Geopolitik
Bild: Forum Geopolitica

Belarus aus der Sicht der Geopolitik

Vor fünf Jahren schien eine „Volksrevolution“ kurz davor zu stehen, den langjährigen belarusischen Präsidenten zu stürzen. Aleksandr Lukaschenko schlug mit Entschlossenheit zurück. Vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine scheinen heute viele Menschen in Belarus dankbar zu sein. Doch die belarusische Opposition im Exil will mit voller Unterstützung der EU den Kampf so lange fortsetzen, wie es nötig ist.
Stefano di Lorenzo
Sa. 06 Sep 2025 531 3

Es war das Jahr 2020, der erste Sommer von Covid. Über mehrere Monate hinweg war den Menschen weltweit befohlen worden, „soziale Distanz“ zu wahren, Masken zu tragen und alle Arten von Zusammenkünften zu meiden — sogar im Freien. Nicht so in Belarus, wo die Regierung entschied, dass im Abwägen zwischen Lockdowns zum Schutz der Gesundheit und der Aufrechterhaltung der Wirtschaft letzteres wichtiger sei. In Belarus gab es keine Lockdowns.

Dann, am 9. August 2020, nach einer umstrittenen Wahl, gingen viele Belarusen auf die Straßen. Aleksandr Lukaschenko, der amtierende Präsident, hatte offiziell mehr als 80 Prozent der Stimmen erhalten. Die belarusische Opposition warf der Regierung Wahlbetrug vor. Die EU und die USA stellten sich rasch hinter die Demonstranten — selbstverständlich im Namen von Freiheit und Demokratie. Während die Menschen in Europa und Amerika aufgefordert wurden, zu Hause zu bleiben, ermutigten europäische Regierungen und die USA die Menschen in Belarus, hinauszugehen. Geopolitische Überlegungen und der Wunsch, Belarus aus der russischen Einflusssphäre zu lösen, überwogen pandemische Bedenken. Für einige intensive Tage schien Belarus kurz davor, die nächste Ukraine zu werden, wo im Februar 2014 die Menschen auf dem Unabhängigkeitsplatz — mit massiver Einmischung des Westens — den angeblich prorussischen Präsidenten Wiktor Janukowitsch gestürzt hatten.

Die Proteste in Belarus dauerten wochenlang an und führten zu den größten Demonstrationen in der Geschichte des Landes. Die Menschen träumten davon, Lukaschenko, der seit 1994 an der Macht war, zu stürzen.

Lukaschenko in kugelsicherer Weste und mit einem Sturmgewehr (Kalashnikov-Typ) in der Hand, August 2020 (Bild Euronews).

Doch der Präsident wich nicht zurück. Die Proteste wurden mit harter Hand niedergeschlagen, es kam zu Massenverhaftungen. Zehntausende verließen das Land, darunter die neue und unerwartete Oppositionsführerin Swjatlana Tichanowskaja. Eine ehemalige Sprachlehrerin und später Vollzeitmutter ohne politische Erfahrung hatte sie die Rolle ihres Ehemanns Sergej Tichanowski übernommen, der durch seinen Videoblog populär geworden und vor den Wahlen inhaftiert worden war.

Ein Plakat mit der Abbildung einer Kakerlake bei einer Protestkundgebung in Minsk am 26. Oktober 2020

Er hatte seine Kandidatur angekündigt und Lukaschenko mit einer Kakerlake verglichen, die man mit einem Pantoffel erschlagen müsse. Darum wurde die belarusische Revolution eine Zeit lang auch „Pantoffel-Revolution“ genannt. Solche Rhetorik kam bei den Behörden nicht gut an.

Tichanowskaja fand Zuflucht in Litauen, zusammen mit vielen anderen führenden Personen der belarusischen Opposition. Fünf Jahre später trifft Tichanowskaja regelmäßig führende europäische Politiker, als wäre sie die Präsidentin von Belarus. Viele Politiker und Kommentatoren in Europa und den USA bezeichnen die belarusische Opposition als Exilregierung, als sei sie die wahre und legitime Regierung von Belarus.

Und am 9. August 2025 erinnerten die Europäische Union und große Teile der etablierten Medien in Europa und Amerika an den Jahrestag der gescheiterten belarusischen Revolution. Die Botschaft war klar: Der Kampf geht weiter. Wir geben nicht auf. In einer gemeinsamen Erklärung sagten die Hohe Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik und Vizepräsidentin Kaja Kallas sowie die Erweiterungskommissarin Marta Kos: „Wir stehen in voller Solidarität mit dem belarusischen Volk. (…) Die EU wird das belarusische Volk auf seinem Weg zur Demokratie so lange unterstützen, wie es nötig ist“. Zudem erklärte die EU, sie habe seit 2020 „170 Millionen Euro mobilisiert, um die belarusische Zivilgesellschaft, unabhängige Medien und Opfer der Repression zu unterstützen“.

Der Mehrheit der europäischen Bürger mag Belarus wenig bedeuten. Doch für die Zukunftspläne des westlichen Establishments spielt das Land klar eine wichtige Rolle. Der Kampf um Belarus als strategisches Land im geopolitischen Wettstreit mit Russland dauert an — ähnlich wie einst in der Ukraine vor 2014.

Die belarussische Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja protestiert im Oktober 2020 in Berlin gegen die Ergebnisse der belarussischen Präsidentschaftswahlen 2020; Bild Foreign Affairs

In einem Artikel, der kürzlich in der renommierten US-Zeitschrift „Foreign Affairs“ erschien, schrieb Tichanowskaja:

„Von außerhalb des Landes aus arbeiten meine Kollegen und ich daran, unsere Heimat zu befreien. Wir haben eine Exilregierung gegründet, besetzt mit belarusischen Aktivisten und Überläufern aus dem Regime, bereit, die Führung beim Wiederaufbau des Landes zu übernehmen. Wir haben formelle Beziehungen zu amerikanischen und europäischen Beamten geknüpft. Viele Länder sehen mich inzwischen als die legitime Führerin von Belarus.“
Swetlana Tichanowskaja

Doch während jene im Ausland von einem fulminanten Comeback träumen, ist in Belarus selbst kaum etwas von der Revolutionstimmung von damals übrig. Die Atmosphäre in der Hauptstadt Minsk, einer Stadt mit zwei Millionen Einwohnern, und in anderen Städten des Landes ist so ruhig wie nur möglich. Vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine sind die Menschen in Belarus vor allem dankbar, dass ihr Land eine direkte Konfrontation mit Russland vermeiden konnte. Bei den Wahlen im Januar dieses Jahres gab es keinerlei Proteste. Aber das interessiert den Westen anscheinend überhaupt nicht.

Belarus als Pufferstaat

Hätte jemand vor fünf oder zehn Jahren vorhergesagt, dass die Zukunft Europas von der Ukraine abhängen würde, wäre er vermutlich verspottet oder im besten Fall ignoriert worden. 2025 scheint es selbstverständlich, dass Europas Schicksal vom Ausgang des Krieges in der Ukraine abhängt — eines Krieges, dessen Ende, trotz zahlreicher Prognosen, offenbleibt.

Der belarusische Fall ähnelt also dem der Ukraine. Heute ist Belarus ein enger Verbündeter Russlands. Aber wird das so bleiben? Handelt es sich um eine starke und ewige Union oder gibt es Reibungen? Die belarusische Identität ist komplex und das Produkt einer langen Geschichte. Viele Menschen in Belarus fühlen sich Russland verbunden — historisch wie kulturell. Doch das war auch in der Ukraine bis vor wenigen Jahren genauso. Auch in Belarus ist ein großer Teil der Bevölkerung sich der Geschichte des Landes vor 1772 bewusst, also vor der ersten Teilung der polnisch-litauischen Adelsrepublik, in deren Folge große Teile des heutigen Belarus unter die Herrschaft des russischen Zarenreiches gerieten.

Karte der Polnisch-Lithauischen Adelsrepublik (Rzeczpospolita Obojga Narodów) ungefähr um das Jahr 1619, dargestellt innerhalb heutiger Ländergrenzen.
Die Teilung Polens 1772 - 1796
historische Karte der Belarussischen Sozialistischen Sowjetrepublik (BSSR) innerhalb der UdSSR

Nach dem Zerfall der Sowjetunion versuchte Belarus jahrzehntelang, mit unterschiedlichem Erfolg ein Gleichgewicht in seinen Beziehungen zum Westen, zu Russland und zu China zu halten. Nach den Wahlen 2020 brachen die Beziehungen zu Europa und den USA zusammen, und nach 2022 verbesserten sie sich auf jeden Fall nicht.

Heute wird Belarus gemeinhin als Satellitenstaat Russlands betrachtet, ein Land, mit dem Belarus historische, kulturelle und wirtschaftliche Bande teilt. Doch das Verhältnis zwischen Russland und Belarus ist nicht nur ein Verhältnis der Unterordnung, und die meisten Belarusen — selbst diejenigen, die man vereinfachend „Russophile“ nennt — sind sich ihres eigenen nationalen Erbes bewusst und darauf stolz. Belarus war nie nur ein Anhängsel Russlands, und Europa hat wiederholt versucht, Belarus so weit wie möglich von Russland zu lösen.

In Mittel- und Osteuropa nimmt Belarus eine geographisch-strategische Scharnierfunktion zwischen Polen, Litauen, der Ukraine und Russland ein. Mittel- und Osteuropa ist ein Grenzgebiet, das seit Jahrhunderten unterschiedliche Kräfte absorbierte und reflektierte: Deutschlands Drang nach Osten, Polens imperiale Phantasien, heute die in Brüssel entworfenen Erweiterungsszenarien, formalisiert in der Östlichen Partnerschaft, die 2009 vom heutigen polnischen Außenminister Radoslaw Sikorski und seinem schwedischen Kollegen Carl Bildt initiiert wurde. Die Östliche Partnerschaft sollte Länder wie Armenien, Aserbaidschan, Georgien, Moldau, Belarus und die Ukraine näher an die EU heranführen. Belarus stieg 2021 aus der Initiative aus.

Mitteleuropa und Geopolitik

Der Begriff „Mitteleuropa“ mag auf den ersten Blick harmlos erscheinen. Heute wird er meist als geografischer Begriff oder von Historikern verwendet, weniger von angesehenen Politologen, die die Welt fast nur noch in „den Westen“ und „den Rest“ einteilen. Doch die Ursprünge des Begriffs „Mitteleuropa“ sind weit mehr als ein bloßes geografisches Etikett: sie spiegeln geopolitische Ambitionen, hegemoniale Bestrebungen, kulturelle Projekte und strategische Neupositionierungen wider.

Im frühen 19. Jahrhundert tauchte der Begriff zunächst als Hinweis auf den „Raum zwischen West und Ost“ auf, doch erst am Vorabend und während des Ersten Weltkriegs erhielt er seine tiefste Bedeutung: Mitteleuropa sollte ein von Deutschland dominiertes Projekt ökonomisch-kultureller Integration werden. Anfang des 20. Jahrhunderts schwankte die Idee von Mitteleuropa zwischen liberalen Impulsen, hegemonialen Ambitionen und nostalgischen Erzählungen. Später griffen Geographen und Geopolitiker den Begriff erneut auf und definierten die Region als strategisches Konfliktfeld, vor allem zwischen Deutschland und Russland.

Eine besonders bekannte Version von Mitteleuropa vertrat der deutsche Politiker Friedrich Naumann.

Friedrich Naumann, 1911

In seinem 1915 erschienenen Buch „Mitteleuropa“ entwarf er einen von Deutschland geführten mitteleuropäischen Block mit integrierten Märkten und gemeinsamer Infrastruktur.

Aus Friedrich Naumanns „Mitteleuropa“, veröffentlicht 1915 während des Ersten Weltkriegs.

Naumann, evangelischer Pastor und Liberaler, gründete 1896 den Nationalsozialen Verein, der Liberalismus, Nationalismus und sozialprotestantische Ideale verband. Ziel war soziale Reform und die Vermeidung von Klassenkonflikten. Heute ist die Stiftung der FDP in Deutschland nach Naumann Friedrich-Naumann-Stiftung benannt.

Naumann wurde oft als Befürworter eines deutschen Nationalismus mit militaristischen und expansionistischen Zügen gesehen, geprägt von seiner Vorstellung von Mitteleuropa als einem cordon sanitaire zwischen Deutschland und Russland, ökonomisch und politisch Deutschland untergeordnet.

Naumann teilte sozialdarwinistische Ideen und das Konzept der Volksgemeinschaft, genauso wie andere prominente Intellektuelle und Politiker seiner Zeit wie Max Weber, Lujo Brentano, Hellmut von Gerlach, der junge Theodor Heuss sowie Gustav Stresemann.

Die Idee eines modernen Belarus tauchte erstmals 1918 mit der ersten deutschen Besetzung auf. Mit dem Zusammenbruch des Zarenreiches wurde in Minsk die Weißruthenische Volksrepublik ausgerufen — ein kurzlebiger Staat, geduldet unter dem deutschen Militärschirm nach dem Friedensvertrag von Brest-Litowsk, bald darauf von Bürgerkrieg und sowjetischer Restauration überrollt. Dennoch hinterließ 1918 zwei bleibende Vermächtnisse: die Exil-Rada und die nationalen Symbole weiß-rot-weiße Flagge und das Pahonia-Wappen, die nach 1991 und erneut in den Protesten 2020 wiederauflebten. In Belarus stehen heute zwei Flaggen für zwei konkurrierende nationale Identitäten: die rot-grüne Staatsflagge mit traditionellem Ornament, die an die Sowjetzeit und den Gesellschaftsvertrag nach 1994 erinnert, und die weiß-rot-weiße Flagge, die den Bezug zu 1918 herstellt und die historische Kontinuität des Staates infrage stellt.

Während des Zweiten Weltkriegs brachte die deutsche Expansion nach Belarus Besatzung, Ausbeutung, Zerstörung und Genozid — aber auch begrenzte Gesten kontrollierter kultureller Anerkennung, wie auch in der Ukraine. Nach der Besetzung von Belarus 1941 richtete Deutschland den „Generalbezirk Weißruthenien“ im Reichskommissariat Ostland ein, geleitet von Wilhelm Kube.

Administrative Gliederung des Reichskommissariats Ostland 1941 – 1943/1944
Briefmarke von 1943

Unter deutscher Besatzung wurde 1943 der Weißruthenische Zentralrat gebildet, der begrenzte kulturelle und bildungspolitische Autonomie erhielt: mehr Belarusisch im Alltag, Förderung zivilgesellschaftlicher Organisationen, Aufbau einer Universität, Wiederherstellung einer unabhängigen orthodoxen Kirche. Auch die von den Deutschen kontrollierte Belaruskaya Gazeta erschien zwischen 1941 und 1944 in belarusischer Sprache als Propagandainstrument.

Крыжовы паход Эўропы супраць бальшавізму = Der Kreuzzug Europas gegen den Bolschewismus

Belarus heute

Räumlich wurde Mitteleuropa immer als Scharnier von Land- und Seekorridoren gedacht, die den Kontinentalkern mit Ostsee, Schwarzem Meer und Mittelmeer verbinden; wer diese Korridore kontrolliert, gewinnt strategische Hebel über Handel, Energie und Transport. Genau hier lag die Logik wirtschaftlicher Integrationsprojekte im Ersten Weltkrieg wie auch deutscher geopolitischer Ambitionen: Kontrolle von Eisenbahnknoten, Energierouten und Kommunikationslinien bedeutete Projektion und politische Stärke. Heute übersetzt sich das Konzept in reale Politik: Energiekorridore (Gas- und Ölpipelines), Eisenbahnlinien (inklusive China–Europa-Korridore), transnationale Industrieparks und Zollabkommen.

Der belarusische Präsident Lukaschenko wird in westlichen Medien oft als Kreml-Marionette bezeichnet. Doch er ist sehr wohl sein eigener Herr und hat Russland in der Vergangenheit auch kritisiert, manchmal sogar heftig. Das gängige Framing „Autoritarismus versus Zivilgesellschaft“ reicht nicht aus, um die politische Lage in Belarus zu verstehen. 1994 wurde Lukaschenko Präsident eines Landes, das nach dem Zerfall der Sowjetunion schwer litt. Recht und Ordnung waren komplett zusammengebrochen. Bewaffnete Banden kontrollierten große Teile der Fernstraßen und überfielen Lkw, besonders auf der Strecke von Brest nach Minsk, die weiter nach Russland führt. Lukaschenko stellte die Ordnung rasch wieder her, auch mit drakonischen Mitteln. Kaum jemand in Belarus hat Nostalgie für die chaotischen ersten Jahre nach 1991.

Formell sind Belarus und Russland seit 1999 Teil des Unionsstaates — einer Art Konföderation, die jedoch nie vollständig umgesetzt wurde. Trotz enger wirtschaftlicher und politischer Bindungen bestand Lukaschenko stets auf der Unabhängigkeit seines Landes. Auch der Westen suchte wiederholt Annäherung, sobald Spannungen mit Russland auftraten. Doch die bedingungslose Unterstützung der Opposition durch den Westen 2020 drängte Belarus unausweichlich in Russlands Arme. Jahrelang verweigerte Belarus die dauerhafte Stationierung russischer Truppen. Doch im Februar 2022 marschierten Tausende russischer Soldaten von belarusischem Territorium in die Ukraine ein. Heute ist Belarus jedoch nicht direkt in den Krieg verwickelt und versucht, trotz Bündnis mit Russland eine neutrale Haltung einzunehmen. Die ersten Friedensgespräche 2022 fanden in Belarus statt, ebenso wie zuvor die Minsker Gespräche 2014 und 2015 zum Donbass.

Auf asiatischer Ebene wurde Belarus im Juli 2024 als erster europäischer Staat (Russland als eurasisches Land ausgeklammert) Vollmitglied der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit. Damit signalisiert Belarus den Willen, diplomatische und logistische Redundanzen Richtung Osten aufzubauen. Ziel ist, über eurasische Plattformen Lieferketten, Finanzen und Versicherungen vor westlichen Sanktionen abzuschirmen.

China-Belarus-Industriepark „Great Stone“ vor Minsk

Das industrielle Flaggschiff dieser Strategie ist der China-Belarus-Industriepark „Great Stone“ vor Minsk, das „Juwel der Seidenstraße“. Mit über hundert Unternehmen fungiert er als Zentrum für Forschung, Leichtindustrie und Logistik zwischen der Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU: Russland, Belarus, Kasachstan, Armenien, Kirgisistan, Moldawien hat Beobachterstatus) und EU. Dies ist die belarusische Version einer „sanktionsresistenten“ Geoökonomie: nicht-westliches Kapital und Technologie anziehen und Wachstum auf Ost-West- sowie Nord-Süd-Korridore stützen, die NATO-kontrollierte Häfen umgehen.

Der militärische Aspekt

Die Migrationskrise von 2021 an den Grenzen zu Polen und Litauen verhärtete die Positionen Warschaus und Vilnius’ gegenüber Belarus und weitete die Konfliktdynamik über die Ukraine hinaus aus. Heute gehört die Westgrenze von Belarus zu den am stärksten militarisierten in Europa. Einst gab es die Fulda-Lücke, den bekanntesten Brennpunkt des Kalten Krieges, wo NATO-Planer mit einem sowjetischen Panzerangriff auf Westdeutschland rechneten.

Friedensbüro Osthessen, Fulda - vermutlich 1986

Die Fulda-Lücke symbolisierte die Angst vor einer plötzlichen Eskalation in Europa. Doch die sowjetischen Panzer kamen nie. Heute übernimmt diese Rolle die Suwałki-Lücke, ein schmaler Landstreifen zwischen Polen und Litauen, der die russische Exklave Kaliningrad von Belarus trennt. Strategen in Washington und Brüssel bezeichnen sie oft als einen der gefährlichsten Orte der Welt — einen möglichen Auslöser für einen größeren Krieg.

Die Wahrscheinlichkeit eines Konflikts muss jedoch mit Vorsicht eingeschätzt werden. Die Risiken sind real und dürfen nicht ignoriert werden, sollten aber auch nicht übertrieben werden. Die baltischen Staaten betrachten die Kombination aus dem Atomkraftwerk Astravets und den in Belarus stationierten russischen taktischen Atomwaffen als doppelte strategische Bedrohung, während Warschau zunehmend seine gesamte Ostflanke als „Sicherheitsgürtel“ begreift. Ganz wie die Fulda-Lücke im ersten Kalten Krieg ist auch die Suwałki-Lücke ebenso ein Symbol wie ein mögliches Schlachtfeld: ein Instrument psychologischen Drucks und ein Fokus für Militärübungen und Worst-Case-Szenarien. Ihre Gefahr liegt nicht nur in Panzern oder Raketen, sondern auch darin, dass Alarmismus selbst Wahrnehmungen verhärtet und den Raum für Diplomatie verengt.

Zukünftige Szenarien

Inzwischen gibt es in Belarus Zeichen einer Entspannung. Sergej Tichanowski, einst Lukaschenkos Gegner, wurde kürzlich freigelassen und schloss sich seiner Frau in Litauen an. Von hier aus will er den Kampf fortsetzen. In einem Interview mit dem US-Magazin TIME erklärte Lukaschenko, der in fünf Jahren 75 Jahre alt sein wird, dass er nicht erneut kandidieren werde. Heute wirkt Belarus sauber und geordnet. Doch Lukaschenkos Abgang könnte Brüche in der Gesellschaft sichtbar machen, die externe Akteure auszunutzen versuchen — wie zuvor in der Ukraine. Was dort wie ein regionaler Streit in einem fernen Land begann, führte zum größten Krieg in Europa seit 1945 — ein Konflikt, der noch weiter eskalieren könnte. Dasselbe könnte leider auch in Belarus geschehen. Welche Szenarien gibt es also für Belarus in der Zukunft?

25. Gipfeltreffen der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ/SCO) vom 31. August bis 1. September 2025 in Tianjin, China

Das erste ist Stabilisierung: Belarus setzt die Monetarisierung der Integration mit Moskau fort, nutzt die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) und die EAWU, um Engpässe zu umgehen, konsolidiert das Kernkraftwerk Astravets und die logistischen Korridore nach Asien. Dies ist die wahrscheinlichste Entwicklung auf kurze Sicht — insbesondere solange der Krieg in der Ukraine die strategische Entropie (Unsicherheit und Unordnung in der geopolitischen Lage) in der Region hochhält.

Das zweite Szenario ist eine Normalisierung im Sinne einer „Brücke“, was derzeit jedoch wenig wahrscheinlich wirkt: Minsk versucht, technische Kanäle mit der EU zu „neutralen“ Themen (nukleare Sicherheit, Gesundheit, Zoll) wieder zu öffnen, indem es schrittweise einige sektorale Sanktionen durch Grenzgarantien und symbolische Deeskalation abzuschwächen versucht. Doch dieser Weg würde glaubwürdige europäische Anreize und eine Versöhnung mit der politischen Diaspora erfordern — beides heute in weiter Ferne.

Das dritte Szenario ist der „Nachfolge-Schock“: Der Abgang Lukaschenkos in naher Zukunft könnte ein instabiles Spiel zwischen Wirtschaftseliten, Sicherheitsapparaten und Zivilgesellschaft eröffnen. Moskau würde versuchen, das Ergebnis im Rahmen des Unionsstaates vorwegzunehmen, während Washington und Brüssel darauf drängen würden, zumindest Teile der neuen Führungsschicht zu „europäisieren“. Die Gefahr besteht darin, dass ohne gemeinsame Garantien ein neues Kapitel des Stellvertreterkriegs zwischen dem Westen und Russland eröffnet wird.

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