Der große amerikanische Bluff

Der große amerikanische Bluff

Hinter der glänzenden Fassade von Börsenrekorden und KI-Rhetorik verbirgt sich eine Wirtschaft, in der acht von zehn Amerikanern kaum überleben können.
Felix Abt
Sa. 01 Nov 2025 1178 8

Elon Musk ist laut Forbes[1] der erste Mensch der Geschichte mit einem Vermögen von 500 Milliarden US-Dollar. Während Musk und die Ultrareichen zu unvorstellbaren Höhen aufsteigen, kämpfen Millionen Amerikaner darum, ihre Rechnungen zu bezahlen.

Ein aktueller Bericht von Goldman Sachs zeichnet ein düsteres Bild: 40 % der arbeitenden Bevölkerung leben mittlerweile von Gehaltsscheck zu Gehaltsscheck.[2] Setzt sich dieser Trend fort, wird der Anteil bis 2033 auf 55 % steigen. Weitere 40 % geben an, keine nennenswerten Fortschritte bei ihrer Altersvorsorge zu machen. Zusammengerechnet bedeutet das: Rund 80 % der Amerikaner stehen finanziell auf der Stelle.

Gleichzeitig sind die Kosten des Ruhestands in den vergangenen 25 Jahren jährlich um 4 % gestiegen.[3] Bis 2033 wird der durchschnittliche Amerikaner 1,7 Millionen US-Dollar benötigen, um seinen Lebensstandard im Alter halten zu können – nach 1,1 Millionen im Jahr 2023. Ein Ziel, das für die große Mehrheit unerreichbar bleibt.

Auch der Wohnungsmarkt erzählt dieselbe Geschichte. Im Jahr 2000 verschlang Wohneigentum 33 % des verfügbaren Haushaltseinkommens. Heute sind es 51 %.[4] 2002 war der durchschnittliche Erstkäufer 36 Jahre alt, heute liegt das Durchschnittsalter bei 56 – zwei verlorene Jahrzehnte, jene Lebensjahre, in denen frühere Generationen Familien gründeten und Vermögen aufbauten.

Schaltet man jedoch CNBC oder Bloomberg ein, scheint alles prächtig: Die Börsen eilen von Rekord zu Rekord, das Bruttoinlandsprodukt wächst, und die Arbeitslosigkeit liegt angeblich bei „nur“ 4,3 %.[5]

Doch diese Zahlen sind eine optische Täuschung. Die offizielle Arbeitslosenquote zählt jeden, der wenigstens eine Stunde pro Woche arbeitet, als „beschäftigt“. Das BIP-Wachstum wird zunehmend von Rechenzentren und KI-Spekulation getragen – nicht von besseren Jobs oder höheren Löhnen. Während die Märkte explodieren, profitieren real nur die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung.[6]

Die vielbeschworene KI-Revolution, einst als Produktivitätsschub gefeiert, ersetzt in Wahrheit bereits Arbeitskräfte, statt sie zu stärken. Programmierer, Analysten und Angestellte werden entlassen, während Unternehmensgewinne neue Höchststände erreichen.[7]

Kurz gesagt: Die Wirtschaft floriert – für jene, die sie besitzen.

Für alle anderen ist es ein langsames, stetiges Verbluten.

65 % der Amerikaner geben an, sich jeden Monat finanziell unter Druck zu fühlen – ein Anstieg von 58 % im Vorjahr.[8] Der Consumer Sentiment Index der Universität Michigan liegt inzwischen niedriger als während der Finanzkrise 2008/2009.[9]

Das ist keine starke Wirtschaft, sondern eine Zwei-Klassen-Ökonomie – eine, in der die Wohlhabenden ihre Vermögen in Aktien und Immobilien vervielfachen, während die Mittelschicht ums Überleben kämpft, gefangen zwischen stagnierenden Löhnen und explodierenden Lebenshaltungskosten.

Der Ökonom Matt Stoller bringt es auf den Punkt: eine Wirtschaft, die auf Ungleichheit gebaut ist.[10] Vermögen konzentriert sich zunehmend in Finanzanlagen und Immobilien, während Löhne stagnieren und Schuldenberge wachsen. Amerikanische Haushalte verfügen heute über ein Sechsfaches ihres Jahreseinkommens in Finanzvermögen – überwiegend im Besitz der Reichen – verglichen mit dem 3,5-Fachen in den 1950er-Jahren.

Damals waren Häuser erschwinglich, Schulden selten, und Familien lebten innerhalb ihrer Mittel.

Heute ist das Überleben ohne Kreditkarten, Studienkredite und überteuerte Hypotheken kaum mehr möglich. Jeder wirtschaftliche Abschwung bedroht das letzte bisschen Sicherheit, das geblieben ist.

Und nun berichtet sogar GoFundMe-Chef Tim Cadogan, dass immer mehr Amerikaner Crowdfunding nutzen, um Lebensmittel zu kaufen.[11]
Was einst als Plattform für Notfälle und Katastrophenhilfe gedacht war, ist zu einer Rettungsleine des Alltags geworden.

„Die grundlegenden Dinge, die man zum Leben braucht, sind in den letzten drei Jahren in nahezu allen Märkten deutlich teurer geworden“, sagte Cadogan gegenüber Yahoo! Finance.[12]

Das ist keine gesunde Wirtschaft – das ist ein Warnsignal. Anhaltende Inflation, wachsende Verschuldung und stagnierende Einkommen zwingen Millionen Menschen, auf die Großzügigkeit Fremder zu hoffen, nur um den Kühlschrank zu füllen.

Gleichzeitig erlebt die USA die größte Vermögensübertragung der Geschichte, da die Babyboomer-Generation Billionen an ihre Erben weitergibt.[13] Doch die Spendenbereitschaft stagniert – seit Jahren bei lediglich 2 % des BIP.[14] Die Kluft zwischen wachsendem Kapitalvermögen und privater Unsicherheit wird immer tiefer.

Die Vereinigten Staaten leiden nicht an Geldmangel, sondern an Gerechtigkeitsmangel.

Die Welt erlebt einen neuen Goldrausch – diesmal treiben Algorithmen und Rechenzentren die Spekulation. Milliarden fliessen in Tech-Riesen wie Nvidia, Microsoft, OpenAI und Google.

Doch die Produktivität bleibt aus: 95 % der Unternehmen sehen keinen messbaren Nutzen der KI⁷. Der Markt feiert Potenzial, nicht Realität – ähnlich wie bei der Dotcom-Blase.

Die KI-Industrie gleicht einem geschlossenen Geldkreislauf: Microsoft investiert in OpenAI, OpenAI kauft Cloud-Dienste bei Microsoft, Nvidia investiert, OpenAI kauft Nvidia-Chips.

Alles Geld wechselt die Hand, ohne reales Wachstum. OpenAI schreibt Milliardenverluste und hat Verpflichtungen von 1,3 Billionen Dollar.

Zudem: Die „Magnificent Seven“ – Apple, Microsoft, Nvidia, Amazon, Meta, Google, Tesla – kontrollieren über ein Drittel des S&P 500. Ohne sie wäre das Wachstum praktisch null.

Fällt die Euphorie, fällt das System. Während Milliarden in Serverparks fliessen, bleiben Schulen, Wohnungen und Infrastruktur auf der Strecke.

Die Gesellschaft zahlt den Preis: höhere Energiepreise, Arbeitsplatzverluste, digitale Abhängigkeiten. Technologischer Fortschritt wird zur Form des Technofeudalismus.

Fazit: Die KI-Ökonomie gleicht einem globalen Ponzi-Schema. Illusion statt Fortschritt.

Ohne Regulierung droht ein Crash – diesmal digital codiert. Aber Palantir-Chef Peter Thiel, Hohepriester des allumfassenden Überwachungsstaats, warnt vor Regulierung – die sei, so Thiel, vom Antichrist“. Selbstironie? Fehlanzeige.

Bei meiner kürzlichen Reise durch Xinjiang wurde mir deutlich, was „vorausdenken“ wirklich bedeutet: China verwandelt Wüsten in Ackerland, baut flächendeckend Solar- und Windparks, erweitert Wasserkraft und errichtet im ganzen Land Atomkraftwerke in Rekordzeit.

In den USA explodieren währenddessen die Strompreise – nicht zuletzt wegen stromhungriger Datenzentren von Microsoft, Amazon und OpenAI.

Energie wird zur Währung der Zukunft: Sie hält die Betriebskosten für Chinas Industrie, einschliesslich KI, niedrig und untergräbt gleichzeitig die Wettbewerbsfähigkeit des Westens.

China denkt in Dekaden, Amerika in Quartalen. Napoleon sagte einst: „Gouverner, c’est prévoir“ – regieren heisst vorauszusehen. In Peking Staatsräson, in Washington und europäischen Hauptstädten eine längst vergessene Tugend.


Quellen

  1. Forbes, „Elon Musk Becomes World’s First $500 Billion Man“, 2025.

  2. Goldman Sachs, „Paycheck to Paycheck Report“, 2025.

  3. Goldman Sachs Research, „The Future of Retirement: 2024–2033 Outlook“.

  4. Harvard Joint Center for Housing Studies, „State of the Nation’s Housing“, 2024.

  5. U.S. Bureau of Labor Statistics, Beschäftigungsbericht September 2025.

  6. Federal Reserve, „Distribution of Household Wealth in the U.S.“, Q2 2025.

  7. Axios, Neil Irwin, „AI Investments Drive GDP, But Jobs Lag“, 2024.

  8. Bankrate, „Financial Strain Survey“, August 2025.

  9. University of Michigan, „Consumer Sentiment Index Report“, September 2025.

  10. Matt Stoller, „The Economy Runs on Inequality“, Substack, 2024.

  11. Yahoo! Finance, „GoFundMe CEO: More Americans Crowdfunding Groceries“, Oktober 2025.

  12. Fortune Magazine, „Groceries as the New Emergency“, 2025.

  13. Cerulli Associates, „U.S. Wealth Transfer Outlook“, 2024.

  14. Giving USA, „Annual Report on Philanthropy“, 2024.

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