China neu denken: Weder Kommunismus noch Kapitalismus – eine Leistungsmeritokratie mit chinesischem Charakter

China neu denken: Weder Kommunismus noch Kapitalismus – eine Leistungsmeritokratie mit chinesischem Charakter

Westliche Mythen über China bröckeln. Von „verbotenen Cartoons“ bis hin zu „vollständigen Lockdowns“ – die Realität sieht anders aus: Es gibt Debatten, Minderheiten bewahren ihre Kultur und Unternehmer sind erfolgreich.
Felix Abt
Di. 21 Okt 2025 1030 3

Fast alles, was man in westlichen Medien über China liest, erweist sich bei näherem Hinsehen als falsch: Nein, es gibt kein „Sozialkreditsystem“. Und nein, der chinesische Präsident fürchtet sich nicht vor Winnie Puh.

Links: Der Spiegel – „Winnie Puh ist verboten“. Rechts: Chinas Realität – Winnie Puh in allen Größen und Farben, frei Haus auf Knopfdruck. (Screenshots Felix Abt)

Fakten statt Mythen: Pandemie in China

Auch die gängigen Erzählungen zur Pandemie stimmen nicht. Weder gab es in China einen „totalen Lockdown“ noch eine Masken- oder gar Impfpflicht. Das bestätigte mir Jerry Grey, der während der Covid-Zeit Tausende Kilometer und Dutzende Städte mit dem Fahrrad durchquerte, hier im Gespräch.

Vielfalt und kulturelle Freiheit

Ein weiteres Beispiel betrifft Xinjiang: Die Uiguren und Kasachen, die ich dort kürzlich traf, sprachen lieber – und oft auch besser – ihre Muttersprache als Mandarin. Anders als Millionen Ukrainer mit russischer Muttersprache, die ihre Kultur und Sprache nicht frei ausüben dürfen, ist in Xinjiang die eigene Identität sichtbar und präsent: Uigurisch begegnet einem überall, und Minderheiten können ihre Sprache und Traditionen uneingeschränkt leben.

In der U-Bahn von Urumqi: Ich bat die Uigurinnen, die mir gegenüber saßen, um ein Foto – sie stimmten sofort zu. Links weist eine kleine grüne Tafel in Uigurisch, Mandarin und Englisch auf die „Courtesy Seats“ für Behinderte, Mütter mit Kindern und ältere Menschen hin. (Bild: Felix Abt).

Wirtschaftliche Freiheit statt Parteidiktatur

Und auch die Wirtschaft steht nicht am Gängelband der Kommunistischen Partei. Im Gegenteil: Jensen Huang, Gründer und CEO von NVIDIA, dem unbestrittenen Marktführer für Mikrochips, die für Künstliche Intelligenz und Deep Learning eingesetzt werden, bezeichnete China sogar als „unterreguliert“ – sprich: Unternehmer genießen dort mehr Freiheit als in den USA, von Deutschland ganz zu schweigen.

All das werden Sie in westlichen Medien nicht erfahren.

Zensur in China? Wahrheit im Westen? Sehen Sie genau hin!

Wir schaffen das“, versprach Kanzlerin Angela Merkel. Doch es kamen über eine Million Menschen – Verfolgte, angebliche Flüchtlinge, Wirtschaftsflüchtlinge –, viele mit klarem Blick auf die Vorzüge des deutschen Sozialstaats. Das Problem: Zahlreiche Zuwanderer zeigten kaum Bereitschaft zur Integration. Merkels Versprechen blieb leeres Wort: Deutschland hat es nicht geschafft.

China? Ganz anders. Keine Masseneinwanderung, keine Putsche, keine Todesschwadronen, keine Destabilisierung von Nachbarländern. Keine Bombardements, kein Chaos. Stattdessen: Investitionen in die Entwicklung der Region.

Westliche Medien stehen fassungslos da. Laut ihrer Lesart sind Chinas soziale Medien streng zensiert und abweichende Meinungen werden brutal unterdrückt – und doch können sie den realen Aufruhr über Pekings „K-Visum“ für ausländische MINT-Absolventen nicht verschweigen. Der Plan, Elitekräfte ohne Jobangebot ins Land zu holen, entfesselte massive Online-Debatten, die Hunderte Millionen Aufrufe generierten. CNN selbst musste einräumen: „In den letzten Tagen hat die Diskussion über die K-Visum-Kategorie die sozialen Medien dominiert, wobei die meistgetrendeten Hashtags zu diesem Visum in nur zwei Tagen etwa eine halbe Milliarde Aufrufe erreichten.“ Bürger äußerten dabei klare, berechtigte Sorgen über Jobs, Bildung und Fairness – Fakten, die westliche Medien nur widerwillig zur Kenntnis nehmen.

„Chinas arbeitslose Jugend ist mit dem Plan, ausländische Fachkräfte durch ein neues ‚K-Visum‘ anzulocken, nicht zufrieden.“ Und woher weiß CNN das? Aus den angeblich „streng zensierten“ chinesischen Medien...

CNN, BBC und sogar die South China Morning Post berichten zwar, sehen aber nur, was sie sehen wollen: „autoritäres China“, in dem angeblich niemand eine Stimme hat. Sie erkennen die offene Debatte an – und behaupten im nächsten Satz, sie sei streng kontrolliert. Als die Volkszeitung auf die Sorgen reagierte und damit zeigte, dass die Führung zuhört, wird das in westlichen Medien reflexhaft als Propaganda abgetan.

Was die westlichen Medien nicht zugeben: In China werden Debatten geführt, Kritik geäußert, und die Stimmen der Menschen werden gehört. Im Westen hingegen werden Bürger mit endloser Kriegspropaganda bombardiert. Wer diese Konflikte infrage stellt, wird von „Experten“ belehrt, warum Angst, Feinde und permanente Kriege unvermeidlich und notwendig seien.

CNN erklärt der Welt ihre größten Probleme und Herausforderungen – mit Hilfe eines ehemaligen CIA-Direktors und Generals, der schon am unprovozierten und illegalen Irak-Krieg beteiligt war. (Screenshot: CNN)

Kurz gesagt: In China hören die Mächtigen zu. Im Westen hören die Menschen nur, was sie hören sollen. Wer den Kontrast erkennt, sieht klar: Wer wirklich informiert wird – und wer konsequent belogen wird.

Vom zentralen Plan zur globalen Marktmacht

Vor fünfzig Jahren wurde das Wirtschaftsleben in China und der Sowjetunion noch von zentralen Planern bestimmt. Heute ist China der weltweit größte Exporteur und fest in den globalen Marktkapitalismus eingebunden. Doch was verbirgt sich eigentlich hinter dem Schlagwort „Sozialismus mit chinesischen Besonderheiten“?

Die Bürgermeister-Ökonomie: Lokale Dynamik für nationale Stärke

In The New China Playbook: Beyond Socialism and Capitalism beschreibt die in Harvard ausgebildete chinesische Professorin Keju Jin ein System, das sie „Bürgermeister-Ökonomie“ nennt: Lokale Funktionäre wetteifern darum, private Unternehmen zu fördern, die den Zielen der Kommunistischen Partei entsprechen. Sie unterstützen die Firmen dabei, geeignetes Land und Produktionsstandorte zu finden, Kredite von Banken zu erhalten, Steuervergünstigungen oder -befreiungen zu sichern und weitere Vorteile zu nutzen. Jeder Fünfjahresplan setzt neue Schwerpunkte – vom Wirtschaftswachstum über den Umweltschutz bis hin zur Förderung von Mikrochips und Künstlicher Intelligenz – und die Beamten werden streng an ihren Ergebnissen gemessen. Wer besonders erfolgreich ist, kann mit einer Beförderung rechnen.

Fahrerloser Lkw in China (Bild: Felix Abt)

Meritokratie statt Oligarchie

Die Partei gibt lediglich die große strategische Richtung vor, doch die Umsetzung hängt von einem dynamischen Zusammenspiel zwischen privaten Firmen, Staatsbetrieben und lokalen Behörden ab – alle im Wettbewerb, ehrgeizige Vorgaben zu erreichen. Auch Staatsbetriebe arbeiten nach marktwirtschaftlichen Regeln. Schon vor zwanzig Jahren erklärte mir der CEO eines großen Staatsunternehmens: „Mein Job ist, nachhaltige Rentabilität, kontinuierliche Produktinnovation und messbare Kundenzufriedenheit sicherzustellen. Wenn wir das nicht liefern, bin ich meinen Job los.“

Buchcover-Abbildung: Amazon

Leistung, Wohlstand und Stabilität für alle

Dieses Ringen hat Chinas Wirtschaft zu einem der dynamischsten Schauplätze weltweit gemacht, getrieben von unablässiger Innovation und technologischen Durchbrüchen. Gleichzeitig verfolgt die Führung das Ziel, Wohlstandsunterschiede zu verringern und eine „gemeinsame Prosperität“ (共同富裕, gòngtóng fùyù) zu erreichen.

Anders als westliche Plutokratien, die von Oligarchen geprägt sind, versteht sich China als Meritokratie – ein Thema, das ich auch in meinem Beitrag When Imperial China Had a Vietnamese Prime Minister beleuchtet habe.

John L. Thornton, ehemaliger Vorsitzender von Goldman Sachs Asia, der regelmäßig mit chinesischen Spitzenpolitikern zusammentraf, sagt: „Die KPCh funktioniert eher wie eine meritokratische Elite als wie eine traditionelle Partei – vergleichbar mit der historischen Mandarinenklasse. Sie ist leistungsorientiert, ähnlich wie das US-Militär.“

In China steigen nur die Fähigsten auf. Bewerber für den öffentlichen Dienst müssen die nationale Prüfung (公务员考试, Gōngwùyuán Kǎoshì) bestehen, die allgemeines Wissen, Recht, Sprache, analytische Fähigkeiten und je nach Position auch fachliche Spezialkenntnisse prüft. Beförderungen erfolgen ebenfalls leistungsbasiert – bestimmt durch Leistung und nicht durch Abstammung oder Einfluss.

Das Reich der Mitte zeigt, dass wirtschaftliche Dynamik, technologische Innovation und politische Stabilität kein Widerspruch sein müssen. Lokale Funktionäre, private Unternehmen und Staatsbetriebe wetteifern um messbare Ergebnisse, fördern Wachstum und Innovation und verfolgen zugleich das Ziel, Wohlstand für alle zu schaffen. Minderheiten können ihre Kultur und Sprache pflegen, während im Westen Milliardäre, Medieneliten und schwindendes Vertrauen die Politik dominieren.

Im Unterschied zur stetig wachsenden und prosperierenden chinesischen Mittelschicht – der größten der Welt – schrumpft die Mittelschicht im Westen, und die Demokratie driftet Richtung Oligarchie.

Um China wirklich zu verstehen, muss man über die Schlagzeilen hinausblicken. Von China zu lernen heißt, zu lernen, wie man gewinnt – ein Verweis auf den alten sowjetischen Slogan, doch China schlug seinen eigenen Weg ein, früh und entschieden. Die Frage ist einfach: Sollten wir uns von einem Modell, das funktioniert, nicht wenigstens ein wenig inspirieren lassen?

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