
Krieg in der Ukraine - Die Rhetorik der Frustration
Wenn man im Westen überhaupt noch etwas vom Geschehen an der Front in der Ostukraine hört, dann am ehesten über die angeblich horrenden Verluste welche die russische Armee dort erleide. So genau können Außenstehende das freilich nicht wissen, denn über die weitere Feldverwendungsfähigkeit eines verletzten Soldaten wird durch russische Militärärzte entschieden und nicht durch westliche Journalisten auf der Basis von Informationen ukrainischer Nachrichtendienste. Die Zahlen der beinahe regelmäßigen Austauschaktionen von Gefangenen und Leichen lassen nicht darauf schließen, dass die Russen gewaltige Personalverluste erleiden (1). Das von ukrainischer Seite immer wieder kolportierte Narrativ der horrenden Verluste soll dem Westen demonstrieren, dass die Ukraine nach wie vor einen nützlichen Verbündeten darstellt, der Russland Schaden zufügen könne. In einem Umfeld, in welchem Teile des Westens sich auf einen lang andauernden Krieg gegen Russland einstellen, mag dieses Narrativ auf offene Ohren stoßen.
Ungebrochener russischer Vormarsch
Mit diesem Narrativ tröstet sich die Ukraine auch über die täglichen Gebietsverluste hinweg. In der westlichen Öffentlichkeit wurde teilweise der Eindruck vermittelt, der russische Vormarsch sei ins Stocken geraten und es beständen sogar Aussichten auf eine erfolgreiche ukrainische Gegenoffensive. Das scheint mehr als zweifelhaft zu sein.

Diese Grafik zeigt, dass die russische Armee seit dem Abbruch der ukrainischen Sommeroffensive 2023 stetig im Vormarsch ist und ihren Vormarsch in der zweiten Hälfte vergangenen Jahres noch bedeutend beschleunigt hat. Derzeit sind die russischen Truppen im Osten der Ukraine daran, die Verbindungen zu wichtigen frontnah gelegenen Städten abzuschneiden: Kupiansk, Siversk/Seversk, Sloviansk, Kositantynivka/Konstantinovka, Pokrovsk/Krasnoarmeisk und andere. Den schwierigen und verlustreichen Sturm von Städten wie Mariupol und Bakhmut/Artemovsk vermeiden die Russen, sie treten erst an, wenn die ukrainischen Garnisonen schon knapp an Nachschubgütern aller Art sind. Im Falle der jeweils mehrere Tausend Mann umfassenden Garnisonen der erwähnten Städte dürfte das einige Wochen dauern, eine Einnahme vor Ende dieses Jahres ist wohl kaum zu erwarten. Das Schema der partiellen Einkreisung, des Abschneidens vom Nachschub, des Unterbruchs der Fernmeldeverbindungen, des Sturmreifschiessens mit schweren Bomben und des Zerschlagens abziehender Kräfte mittels Artillerie und Drohnen dauert eben seine Zeit. Aber Geländegewinn ist aus russischer Sicht sekundär; Abnützung ist das eigentliche Ziel. Nach wie vor suchen die Russen, die ukrainische Armee permanent unter Druck zu halten, sodass sie nur immer hastig ausgebildete Truppen an die Brennpunkte des Geschehens werfen kann.
Die seit Ende August geführten Gegenangriffe der Ukraine brachten bisher nur wenig ein. Es sind vielmehr die Russen, welche das Schwergewicht der Kämpfe bestimmen und bei Bedarf verlegen, bevor sie sich an einem bestimmten Ort festbeißen.
Von der Region Huljaipole zwischen Donetsk und Zaporozhie, wo die Russen bis vor kurzem auf 15 km Frontbreite angriffen, verschiebt sich das Schwergewicht derzeit wohl in den Raum Novopavlivka (3). Die ukrainischen Gegenangriffe seit dem ukrainischen Nationalfeiertag brachten bisher nur kurzfristige Entlastung (4). Der Eindruck einer verlangsamten Offensive, der bei manchem westlichen Beobachter entstand, dürfte eher mit der Medien-Berichterstattung zu erklären sein als mit reellen Ereignissen.

Ausweg durch Krieg mit Abstandswaffen
Auch im Krieg der Abstandswaffen setzen die Russen täglich neue Schwergewichte, die teilweise weit auseinander liegen. Kürzlich waren nacheinander Lviv/Lvov, Kiew und Kharkiv/Kharkov im Fadenkreuz. Dabei kamen jeweils Hunderte von Drohnen, sowie einige wenige ballistische Raketen und Marschflugkörper zum Einsatz. Inzwischen haben die Russen den Bau von Drohnen perfektioniert und intensiviert. Mittlerweile sind die Geran-Drohnen, die zur Ablenkung und zur Aufklärung eingesetzt werden, mit Strahltriebwerken ausgerüstet und sollen Geschwindigkeiten von 370, vielleicht sogar bis zu 600 km/h erreichen (5).

Für die Ukraine stellt der Krieg mit Abstandswaffen die Art von Kriegführung dar, in welcher sich ihre Unterlegenheit am Boden nicht auswirkt. Die ukrainischen Drohnen, die in russischen Luftraum einfliegen, sollen angeblich der russischen Mineralöl-Industrie schweren Schaden zugefügt haben. Es dürfte aber schwierig werden, mit Angriffen auf die Raffinerien die russischen Streitkräfte zu treffen, denn ihr Anteil am Gesamtverbrauch Russlands an Mineralöl-Produkten dürfte insgesamt klein sein (7). Der aktuelle Krieg ist kein Bewegungskrieg mit großen mechanisierten Verbänden und auch der Einsatz von ad hoc Luftangriffsverbänden mit 100 Kampfflugzeugen verschiedenster Art blieb bisher aus (8). Damit ist eine derart massive Steigerung des Verbrauchs an Betriebsstoffen im Vergleich zum Friedensverbrauch, wie er im Bereich von Munition zu beobachten war, beim Treibstoff nicht zu erwarten.
Flaschenhals Logistik?
Der Flaschenhals im Bereich der Versorgung ist wohl eher der Transport von Nachschubgütern aller Art aus dem Inneren Russlands an die Front, welcher am effizientesten auf Schienen und Flüssen erfolgt (9). Von einer Kampagne gegen diese Infrastruktur ist bis dato aber nichts bekannt. Deshalb ist anzunehmen, dass die Kampagne gegen die Mineralöl-Wirtschaft dem Zweck dient, nun endlich die lange erhoffte Unzufriedenheit in der Bevölkerung Russlands zu erzeugen, damit diese dem Krieg und der Herrschaft Wladimir Putins allgemein ein Ende setze. Bei entsprechenden Spekulationen in der Presse wird wohl eher der Wunsch der Vater des Gedankens sein. Daneben soll die ukrainische Drohnen-Kampagne gegen die russische Mineralölindustrie möglicherweise der Administration Trump demonstrieren, dass der Krieg der Ukrainer und namentlich der Einsatz von Abstandwaffen den wirtschaftlichen Interessen der USA dient, indem der russische Konkurrent aus dem Markt gedrängt wird. Der aktuelle Krieg ist für Manchen eben auch Business. Berichte ukrainischer Quellen deuten in diese Richtung. Ein Vergleich der Einkünfte Russlands aus dem Verkauf fossiler Brennstoffe mit der Entwicklung der Weltmarktpreise zeigt aber, dass die Höhe der russischen Einnahmen eher durch den Marktpreis bestimmt wird, als durch die Liefermengen.

Eine Verknappung des Angebots an Rohöl und gebrauchsfertigen Produkten mit daraus resultierender Preissteigerung könnte allerdings auch für den Westen unerwünschte Folgen zeitigen – und die Administration Trump möchte ganz generell mit billiger Energie die Konjunktur in den USA ankurbeln, ohne aber die europäische Konkurrenz zu bevorteilen: ein heikler Balance-Akt.
Die Rhetorik der Frustration
Die Aussagen des ehemaligen britischen Verteidigungsministers Ben Wallace, wonach man mit Abstandswaffen das "Leben aus der Krim herausquetschen" müsse, zeugen nicht vom Glauben an eine mögliche Rückeroberung, sondern vom Wunsch nach Rache für einen verlorenen Krieg (11). Wie Wallace das bewerkstelligen will, ließ er möglicherweise bewusst offen. Bei dieser Aussage mag der Wunsch, sich als Hardliner gegen Putin zu profitieren, die Motivation gewesen sein, aber sie trägt nichts zur Lösungsfindung bei und stachelt die Bevölkerung Russlands zu äußerstem Widerstand an. Wallace zeigt, wie weit westliche Politiker zu gehen bereit sind, solange sie sich in einem sicheren Hafen befindlich glauben.
Ein nach Operationssphäre – Luft und Boden – getrennter Waffenstillstand wäre eine Möglichkeit, das Blutvergießen vorübergehend zu stoppen, ohne die Forderung des Kremls nach einem echten Friedensvertrag eine Abfuhr zu erteilen, die ihn zur Intensivierung der Kampfhandlungen bewegen könnte. Das ganze bellizistische Geschwätz westeuropäischer Spitzenpolitiker dient aber letztlich der Ablenkung von der Tatsache, dass sie bislang nicht bereit waren, ihrem ukrainischen Verbündeten zu Hilfe zu eilen, indem sie in Fragen regionaler Sicherheit Konzessionen an die Adresse Russlands machen. So weit geht die Liebe dann doch nicht.
Anmerkungen:
1. Gefangenenaustauschaktionen finden regelmäßig statt, die auch Zivilpersonen umfassen, die von der jeweiligen Gegenseite festgehalten wurden. In der Regel werden Soldaten und Zivilpersonen nach dem Schlüssel 1 gegen 1 ausgetauscht. Am 18. September tauschten beide Seiten letztmals die Leichen von Gefallenen aus. Russland übergab der Ukraine die sterblichen Überreste von 1'000 Soldaten, und Kiew diejenigen von 24 russischen Soldaten. Nachdem es vor allem die russischen Truppen sind, die sich im Vormarsch befinden, ist es logisch anzunehmen, dass Gefallene auf Gebiet liegenbleiben, das sich unter russischer Kontrolle befindet oder unter russische Kontrolle gerät. Siehe Сергей Ромашенко: Россия и Украина передали друг другу по 185 пленных военных,( Sergej Romaschenko: Russland und die Ukraine haben jeweils 185 gefangene Soldaten übergeben), bei Deutsche Welle, 02.10.2025, online unter https://www.dw.com/ru/rossia-i-ukraina-peredali-drug-drugu-po-185-plennyh-voennyh/a-74219257, in russischer Sprache.
2. Siehe SIMPLICIUS Ѱ auf Twitter, online unter https://x.com/simpatico771/status/1929218955282993272.
3. Siehe auch auf dem Telegram-Kanal des österreichischen Generalstabs-Obersten Markus Reisner, online unter https://t.me/c/1799349782/67264.
4. Vgl. "Analyse: Friedenstauben oder Höllenfeuer?", bei Global Bridge, 12.08.2025, online unter https://globalbridge.ch/friedenstauben-oder-hoellenfeuer/.
5. Siehe Артём Кириллов (Artem Kilillov): Барражирующий боеприпас «Герань-3» обрёл оперативную боевую готовность (Die Geran-3-Loitering-Munition hat die operative Kampfbereitschaft erreicht.) bei Авиация России, 15.05.2025, in russischer Sprache. Er berichtete nach der ersten Demonstration der Geran-3 Drohne anlässlich der Siegesparade am 9. Mai, dank ihrem Strahltriebwerk könne die Drohne eine Geschwindigkeit von bis zu 600 km/h erreichen. Die in der westlichen Presse publizierten Daten über die Drohne (300 – 370 km/h) dürften im Wesentlichen auf Angaben des ukrainischen Nachrichtendiensts beruhen. Basierend auf einem Bericht des ukrainischen Militär-Nachrichtendiensts GUR hatte Dmitry Plotnikov am 19.02.2025 auf der russischen Plattform Pravda.ru berichtet, die Drohne könne bis zu 600 km/h schnell fliegen: ГУР Украины: в РФ началось серийное производство реактивного дрона Герань-3 (Ukrainische GUR: In Russland hat die Serienproduktion der Jet-Drohne Geran-3 begonnen), online unter https://military.pravda.ru/2180373-gur-ukrainy-zajavljaet/, in russischer Sprache. Siehe auch Sofiia Syngaivska: Ukrainian Intelligence Reveals: Russia to Build 40,000 Shahed Drones and 24,000 Decoys in 2025, bei Defense Express, 02.08.2025, online unter https://en.defence-ua.com/industries/ukrainian_intelligence_reveals_russia_to_build_40000_shahed_drones_and_24000_decoys_in_2025-15334.html. Bei dieser Produktionsrate können die Russen täglich 150 bis 200 Drohnen einsetzen. In der Nacht vom 4. zum 5. Oktober starteten die Russen bspw. einen kombinierten Angriff mit Drohnen, sowie luft-, see- und bodengestützten Raketen. Nach ukrainischen Angaben waren nicht weniger als 549 Fluggeräte verschiedenster Art daran beteiligt, nämlich 496 Drohnen verschiedener Typen, 2 luftgestützte ballistische Raketen vom Typ Kh-47M2 "Kinzhal", 42 Marschflugkörper vom Typ Kh-101/"Iskander-K" und 9 seegestützte Marschflugkörper vom Typ "Kalibr" aus dem Schwarzen Meer. Das Schwergewicht des Angriffs war die Region Lwiw. Treffer wurden wohl an 26 Zielen erzielt. Siehe den Telegram-Kanal von M. Reisner, online unter https://t.me/c/1799349782/67131. Am folgenden Tag war Kiew der Schwerpunkt und wiederum ein Tag darauf Kharkov/Kharkiv.
6. Online unter https://x.com/Zlatti_71/status/1976180477695303788.
7. Der Anteil des Verbrauchs der Schweizer Armee am Gesamtverbrauch von Treibstoffen in der Schweiz bspw. liegt bei ca. 1%. Der Friedensverbrauch der Schweizer Luftwaffe pro Jahr beträgt 40 bis 45 Mio. Liter Flugpetrol (Kerosin). Siehe Curia Vista, Kampfjets. Betriebskosten und Luftverschmutzung, Interpellation von Gysi Barbara (SP), online unter https://www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/suche-curia-vista/geschaeft?AffairId=20124166. Dazu kommen armeeweit ca. 30 bis 35 Mio. Liter Benzin und Diesel. Der Gesamtverbrauch an Diesel, Benzin und Flugpetrol in der Schweiz betrug im Jahr 2022 knapp 6 Mia. Liter. Siehe Bundesamt für Energie: Schweizerische Gesamtenergiestatistik 2022, online unter https://www.bfe.admin.ch/bfe/de/home/versorgung/statistik-und-geodaten/energiestatistiken/gesamtenergiestatistik.html/, S. 35.
8. Im Generalstabslehrgang der russischen Streitkräfte, welchen der Verfasser in den Jahren 2013/14 besuchte, war die Lehrmeinung die, dass ein ad hoc Luftangriffsverband (Strike Package) mindestens 100 Fluggeräte verschiedenster Art umfassen müsse.
9. Die Transport-Kapazitäten der Eisenbahn dürften auf beiden Seiten der Front die logistische Machbarkeit von Operationen bestimmen. Siele "Leopard-Panzer an der Grenze der Geografie", bei Global Bridge, 31.01.2023, online unter https://globalbridge.ch/leopard-panzer-an-der-grenze-der-geografie/.
10. Siehe Mathias Brandt: Ölpreisentwicklung; Wie entwickelt sich der Ölpreis? bei Statista.de, 23.06.2025, online unter https://de.statista.com/infografik/4666/entwicklung-des-rohoelpreises/ und Kyrylo Shevchenko, @KShevchenkoReal, online unter https://x.com/KShevchenkoReal/status/1974535237658177560/photo/1. Dieser kommentierte "Russia’s oil & gas revenues plunged 20%, leaving the Kremlin with "its weakest windfall since 2020". In the first 9 months, only $81B flowed into the federal budget vs $98B last year. September alone saw a 25% drop from 2024, as lower fuel prices and a stronger ruble slashed Moscow’s main income. Even with exports rerouted to Asia, revenues keep shrinking."
11. Siehe Richard Freeman: Former British Defense Minister Ben Wallace: ‘Choke the Life Out of Crimea,’ ‘Make It Not Inhabitable’, bei Executive Intelligence Review, 01.10.2025, online unter https://eir.news/2025/10/news/former-british-defense-minister-ben-wallace-choke-the-life-out-of-crimea-make-it-not-inhabitable/).
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