Bildungserosion in der Türkei: Von der EU-Mäßigung zur ideologischen Freiheit (2002–2010)

Bildungserosion in der Türkei: Von der EU-Mäßigung zur ideologischen Freiheit (2002–2010)

Das türkische Bildungssystem hat eine langsame, aber gezielte Umgestaltung erfahren: Die wissenschaftliche Bildung schwindet, während die ideologische Indoktrination mit stiller Zuversicht voranschreitet.
Mo. 22 Dez 2025 16

Bildungserosion in der Türkei: Von der Wissenschaft zur Religion

Das türkische Bildungssystem hat seit der Gründung der Republik Türkei im Jahr 1923 viele Reformen durchlaufen, aber nur wenige Epochen haben die ideologische Mission der Schule so tiefgreifend verändert wie die letzten zwei Jahrzehnte. Was Anfang der 2000er Jahre als vorsichtiges Modernisierungsprojekt mit Blick auf die EU begann, entwickelte sich zu einer der umfassendsten religiösen Neuausrichtungen in der jüngeren Geschichte des Landes. Dieser Wandel vollzog sich nicht abrupt, sondern schrittweise durch eine bewusste Kombination aus politischer Konsolidierung, institutioneller Neugestaltung und Lehrplanentwicklung. Eine lange Transformation, die sich in Zeitlupe vollzog.

Die Geschichte handelt nicht nur von Islamisierung, auch wenn dies die sichtbarste Folge ist. Es geht darum, wie die Beseitigung externer Zwänge, vor allem durch die Europäische Union, in Verbindung mit der innenpolitischen Dominanz es der Regierungspartei ermöglichte, das kognitive Umfeld einer ganzen Generation neu zu gestalten. Strukturreformen, Lehrplanrevisionen, Lehrerernennungen, Schulneuklassifizierungen und der beschleunigte Ausbau des Imam-Hatip-Systems (Geistliche und Prediger) waren die wichtigsten Instrumente dieses Wandels.

Von der EU-Moderation zur ideologischen Freiheit (2002–2010)

In den ersten Jahren verhielt sich die AKP (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung) wie eine Regierung, die davon ausging, dass Brüssel irgendwann auf ihre Forderungen eingehen würde. Der EU-Beitritt verschaffte ihr Legitimität im Ausland und Stabilität im Inland, woraufhin die Regierung mit einer Fassade der Mäßigung reagierte. Die Bildungsreformen in dieser Zeit waren technisch, vorsichtig und an europäische Normen angepasst. Naturwissenschaftliche Fächer wurden gestärkt, in Schulbüchern wurde die Demokratisierung betont, und das Bildungsministerium vermied eine offene Religiosität in seiner Politik.

Dies war keine ideologische Neutralität, sondern strategische Geduld.

Solange die Bedingungen der EU wirklich Gewicht hatten und der Beitritt, wenn auch in weiter Ferne, eine hypothetische Möglichkeit blieb, hielt sich Ankara jahrzehntelang weitgehend an die Regeln. Doch mit der Zeit zog sich der Beitrittsprozess in die Länge: Die Türkei stellte 1987 ihren Antrag, erhielt den Kandidatenstatus, trat der Zollunion bei und wartete. Seit der Erweiterung in den 2000er Jahren akzeptierten beide Seiten stillschweigend eine unausgesprochene Wahrheit: Die Türkei würde der EU nicht so bald beitreten, wenn überhaupt. Als der Beitritt ins Stocken geriet und sich die Innenpolitik veränderte, änderten sich auch die Anreize und das Bildungssystem passte sich diesen Veränderungen an.

Ironischerweise war die säkularisierendste Kraft der Türkei nie eine interne, sondern der ferne bürokratische Schatten Brüssels. Als dieser Schatten verblasste, war sein Ersatz kaum überraschend.

Die Zeit nach dem EU-Beitritt: Bildung als Identitätspolitik (2010–2012)

Anfang der 2010er Jahre befreiten die wiederholten Wahlsiege der AKP in den Jahren 2002, 2007 und 2011 in Verbindung mit dem Verfassungsreferendum von 2010 und der Schwächung der militärischen Vormundschaft die Regierung von der Notwendigkeit, sich moderat zu verhalten. Bildung wurde zu einem zentralen Bestandteil des Identitätsprojekts der AKP.

Im Rahmen der Lehrplanreformen in dieser Zeit wurden umfassendere religiöse Themen, neue Einheiten zu moralischen Werten und Elemente der osmanischen Zivilisationserneuerung eingeführt, während wissenschaftliche Inhalte deutlich abgeschwächt wurden. Unabhängige Beobachtungsgruppen wie Eğitim Sen (Gewerkschaft für Bildung und Wissenschaft) berichteten, dass wichtige Themen wie Evolutionsbiologie reduziert oder gestrichen wurden und dass mehrere Lehrbücher für die Mittelstufe von analytischen, forschungsbasierten Ansätzen zu moralisch-ethischen Rahmenbedingungen übergingen. In diesem Umfeld war wissenschaftliche Bildung nicht mehr grundlegend, sondern zunehmend verhandelbar.

Die folgenreichste Veränderung stand jedoch noch bevor.

Die 4+4+4-Reform: Der strukturelle Bruch (2012)

Die „4+4+4”-Reform von 2012 war der Wendepunkt. Der strukturelle Mechanismus, der eine ideologische Transformation in großem Maßstab ermöglichte. Wie Eğitim Sen nach dem ersten Semester der Umsetzung berichtete, wurde durch die Reform die Pflichtschulbildung in drei vierjährige Stufen neu organisiert und die Zugangsbarrieren für religiöse Schulen deutlich gesenkt. Innerhalb kurzer Zeit wurde die Zulassung zu Imam-Hatip-Schulen auf Mittelschulniveau möglich, und viele öffentliche Regelschulen wurden oft ohne breite öffentliche Konsultation in religiöse oder hybride Modelle umklassifiziert. Frühe Statistiken, die nach der Reform veröffentlicht wurden, zeigten deutliche Verschiebungen: steigende Einschulungszahlen an religiösen Schulen, rückläufige Vorschulbesuche und zunehmender Druck auf die schulische Infrastruktur. Diese Entwicklungen deuten darauf hin, dass 4+4+4 nicht nur eine administrative Anpassung war, sondern eine strukturelle Neuausrichtung der Form und des Charakters des türkischen öffentlichen Bildungswesens.

Laut den Datensätzen des Ministeriums für nationale Bildung Milli Eğitim İstatistikleri: Örgün Eğitim (Statistiken zur nationalen Bildung: Formale Bildung) Datensätze des Ministeriums für nationale Bildung, haben sich die Imam-Hatip-Einrichtungen nach 2012 dramatisch ausgeweitet.

• Die Zahl der Imam-Hatip-Mittelschulen stieg von 1.099 Schulen mit 94.467 Schülern im Jahr 2012 auf 3.396 Schulen mit 689.062 Schülern im Jahr 2025.

• Die Zahl der Imam-Hatip-Gymnasien stieg ebenfalls von 708 Schulen mit 380.771 Schülern im Jahr 2012 auf 1.730 Schulen mit 487.263 Schülern im Jahr 2025.

Diese Expansion stellt die schnellste institutionelle Veränderung im türkischen Bildungswesen seit den 1950er Jahren dar. Politisch signalisierte sie eine staatlich gelenkte Neudefinition der Sozialisierung von Kindern.

Oftmals stellten Eltern erst fest, dass ihre Kinder zu „Imam-Hatip-Schülern” geworden waren, nachdem die nächstgelegene nicht-religiöse Schule stillschweigend umfunktioniert worden war.

Lehrplanrevisionen: Wissenschaft raus, Frömmigkeit rein

Nach den strukturellen Veränderungen führte das Bildungsministerium in den 2010er Jahren wiederholt Lehrplanrevisionen durch.

Der Trend war unverkennbar:

• Die Evolutionstheorie wurde 2017 aus den Biologie-Lehrplänen der Gymnasien gestrichen, nachdem sie vom nationalen Lehrplanausschuss als „zu komplex” für Schüler eingestuft worden war.

• „Dschihad” wurde als moralischer Wert in den Religionsunterricht eingeführt, was im Einklang mit der Hinwendung zu einer wertebasierten Bildung stand.

• Die Einheiten zu Werten und moralischer Erziehung wurden ausgeweitet und umfassten nun mehrere Fachbereiche, darunter Sozialkunde und Biowissenschaften.

• Laut Kritikern und Pädagogen, die die neuen Materialien geprüft haben, wurde in Geschichts- und Sozialkundebüchern zunehmend Wert auf religiöse und osmanisch-islamische Themen gelegt.

• Die MINT-Fächer blieben formal im Lehrplan erhalten, aber aufgrund stagnierender Investitionen, mangelnder Laborkapazitäten und überfüllter Klassenzimmer wurde ein Großteil der Inhalte nur in begrenzter oder ineffizienter Form vermittelt, während die Religionspädagogik neue Wahlmöglichkeiten und eine stärkere institutionelle Unterstützung erhielt.

Kritiker stellten fest, dass die „elterliche Nachfrage” nach religiösen Wahlfächern auf mysteriöse Weise erst dann zunahm, als nicht-religiöse Alternativen weniger wurden – ein Zufall, den nur wenige überzeugend fanden.

Die PISA-Trends mögen sich leicht verbessern, aber die Türkei befindet sich immer noch im unteren Viertel der OECD, und die Durchschnittswerte der YKS (Hochschulaufnahmeprüfung) sind so schwach, dass der Begriff „Fortschritt” eher großzügig als sachlich erscheint. Wenn man kein türkischer Elternteil ist, ist das schmerzlich offensichtlich.

Lehrerernennungen: Der stille Hebel

Wenn der Lehrplan den Inhalt definiert, vermitteln Lehrer Weltanschauungen. Lehrerernennungen offenbaren ein Muster ideologischer Priorisierung.

Laut den jährlichen Ernennungsbulletins des Ministeriums für nationale Bildung und unabhängigen Analysen der Ernennungsquoten auf Fachbereichsebene haben sich in den 2020er Jahren mehrere Muster herauskristallisiert:

• Die Ernennungen von Lehrern für Din Kültürü ve Ahlak Bilgisi (Religionskultur und Ethik) stiegen stark an, wodurch dieser Fachbereich zwischen 2020 und 2025 zu den Bereichen mit den höchsten Zuweisungen gehörte.

• Die Ernennungen im Bereich Naturwissenschaften, insbesondere Physik, Chemie und Biologie, stiegen langsamer an, wobei die jährlichen Quoten deutlich unter denen für Din Kültürü ve Ahlak Bilgisi blieben.

• In mehreren jüngsten Ernennungszyklen erhielt Din Kültürü ve Ahlak Bilgisi eine größere Quote als jeder einzelne naturwissenschaftliche Fachbereich, was auf ein Priorisierungsmuster bei der Verteilung der Fachbereiche hindeutet.

• Dieses Verteilungsmuster deutet auf eine Ausweitung des Kaders für Religionsunterricht im Vergleich zu den wissenschaftlichen Kernbereichen hin, was eine Verschiebung in der ideologischen Zusammensetzung der Lehrerschaft verstärkt.

Die Lehrerausbildung prägt die Weltanschauung einer Generation. Die Ausweitung des ideologischen Lehrerkaders bei gleichzeitiger Einschränkung der wissenschaftlichen Bereiche ist ein subtiler, aber wirkungsvoller Mechanismus zur Konsolidierung des Regimes, der leise genug ist, um keine Schlagzeilen zu machen, aber wirkungsvoll genug, um eine Bevölkerung umzugestalten.

Warum dieser Wandel im Bildungswesen von Bedeutung ist

Die Neuausrichtung des türkischen Bildungswesens ist nicht nur kultureller Natur, sondern hat auch strategische und geopolitische Bedeutung. Staaten üben ihren Einfluss nicht nur durch militärische oder wirtschaftliche Macht aus, sondern auch durch die normativen Rahmenbedingungen, die durch die Schulbildung vermittelt werden. Wenn eine regierende Elite die curricularen und institutionellen Grundlagen der Massenbildung umgestaltet, reichen die Folgen natürlich weit über den Klassenraum hinaus und beginnen, wie nicht anders zu erwarten, die Position der Türkei im internationalen System neu zu definieren.

Dabei sind mehrere Auswirkungen besonders hervorzuheben:

1. Wissenschaftliche Wettbewerbsfähigkeit nimmt ab

Eine anhaltende Verringerung der Bedeutung der MINT-Fächer schwächt die technologischen Fähigkeiten, die Innovationskraft und die langfristige wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit – allesamt Säulen der geopolitischen Macht.

2. Identitätspolarisierung verschärft sich

Ein de facto duales System (religiös vs. wissenschaftlich) spaltet die gesellschaftliche Basis. Polarisierte Gesellschaften lassen sich intern leichter mobilisieren, aber schwerer hinter langfristigen strategischen Zielen vereinen.

3. Die außenpolitische Ausrichtung verändert sich

Da sich die Lehrpläne von Demokratie und europäischen Bezügen hin zu islamischen Zivilisationsnarrativen verschieben, beginnt die Außenpolitik diese Identitätsmerkmale widerzuspiegeln. Bildung fungiert somit als langfristiges Signal für den gewünschten Platz der Türkei in globalen Allianzen.

4. EU-Beitritt wird strategisch irrelevant

Da sich die Lehrpläne der Schulen von europäischen Bezugspunkten hin zu eher national-religiösen oder zivilisatorischen Rahmenbedingungen verlagern, schwächt sich die gesellschaftliche Nachfrage nach einer EU-Mitgliedschaft ab. Eine Generation, die ohne eine starke europäische Orientierung aufwächst, hält einen Beitritt weniger für wünschenswert oder notwendig. In diesem Sinne wird der Beitritt nicht nur politisch blockiert, sondern auch allmählich gesellschaftlich irrelevant, da der zugrunde liegende gesellschaftliche Konsens, der ihn einst unterstützte, erodiert.

5. Die Beständigkeit des Regimes nimmt zu

Bildung wird zu einem Instrument der Weltanschauungsbildung. Durch die Ausweitung ideologischer Inhalte und die Einschränkung wissenschaftlicher oder kritischer Denkweisen schafft der Staat eine gefügigere Wählerschaft und festigt seine langfristige politische Kontrolle.

Zusammengenommen zeigen diese Dynamiken, warum Bildung nicht als neutraler Verwaltungsbereich behandelt werden kann. Die Gestaltung von Lehrplänen wird zu einem langfristigen Instrument der Staatskunst: Sie prägt die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, die kulturelle Identität, die geopolitische Ausrichtung und letztlich die Stabilität des Regimes. Im Falle der Türkei ist das Klassenzimmer still und leise zu einem der strategisch wichtigsten politischen Schauplätze geworden. Ein Ort, an dem die Weltanschauung der nächsten Generation geprägt wird, lange bevor sie jemals eine Wahlkabine betritt. Die politischen Entscheidungsträger präsentieren diese Veränderungen als bloße „Aktualisierungen”, aber die kumulative Wirkung ist nichts weniger als eine langsame Neufassung der Verfassung durch Schulbücher.

Fazit

In den letzten zwanzig Jahren hat sich das türkische Bildungssystem von einem Modernisierungsprojekt, das sich lose an europäischen Normen orientierte, zu einer identitätsbasierten Institution gewandelt, die auf ideologische Kontinuität ausgerichtet ist. Was im Schatten des EU-Beitritts begann, endete im Glanz einer religiösen Wiederbelebung. Die Zahlen, Strukturen, Lehrpläne und Lehrerernennungen weisen alle in die gleiche Richtung: eine bewusste Bewegung weg von wissenschaftlicher Bildung hin zu ideologischer Bildung.

Ob dies zu einer stärkeren Kohäsion der Nation oder zu einer stärkeren Polarisierung führt, bleibt ungewiss. Eine Schlussfolgerung lässt sich jedoch kaum vermeiden: Die Türkei bildet eine andere Zukunft aus als die, die sie sich einst vorgestellt hatte.

Und im Gegensatz zur EU-Mitgliedschaft ist diese Zukunft keine Hypothese, sondern bereits in den Klassenzimmern angekommen.

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