
In Russland mangelt es nicht an Selbstvertrauen
Vom 18. bis 21. Juni 2025 versammelte sich im „Expoforum“ nahe dem Flughafen von Sankt Petersburg die russische Elite aus Politik, Wirtschaft und Technologie zum 28. Sankt Petersburger Internationalen Wirtschaftsforum (SPIEF). Unter dem Motto „Gemeinsame Werte: Grundlage für Wachstum in einer multipolaren Welt“ präsentierte sich das Forum weit mehr als eine reine Plattform für wirtschaftliche Verhandlungen: Es war ein perfekt organisiertes Signal russischer Selbstbehauptung, technologischer Unabhängigkeit und geopolitischer Neuausrichtung — vor dem Hintergrund tiefgreifender globaler Spannungen, jetzt auch wieder in akuter Form im Nahen Osten.
Die Bühne der Macht: Glanz und multipolare Selbstgewissheit
Die Hallen des SPIEF, mit ihren blitzblanken Luxusautos, eleganten Geschäftsanzügen und futuristischen Pavillons zeigten eine Russland-Inszenierung, die weit entfernt von den Herausforderungen des „tiefen Russland“ zu sein schien. Hier präsentierte sich die Nation als rohstoffreiche, hochgebildete und technologisch aufstrebende Großmacht, die nicht nur über ihre Ressourcen verfügt, sondern gezielt in Zukunftstechnologien investiert.
Diese Selbstdarstellung war aber kein leeres PR-Spektakel, sondern spiegelte ein Leitmotiv des Forums wider: Die technologische Souveränität. In Diskussionen und Präsentationen dominierten Themen wie digitale Transformation, Importsubstitution, regionale Entwicklung und die Kooperation mit Staaten des Globalen Südens — aus Asien, Afrika und Lateinamerika.
Schon die Teilnehmerzahl war beeindruckend: Zwischen 20.000 und 21.800 Besucher aus etwa 140 Ländern — aus Brasilien, China, Indonesien, Südafrika, Kasachstan — bevölkerten das Forum. Mehr als im Jahr 2019, als das letzte Treffen vor CoVid und dem Anfang der letzten Phase des Krieges in der Ukraine stattfand. Auffällig aber nicht mehr überraschend war die nahezu vollständige Abwesenheit von Delegationen aus Europa und den USA, was das neue geopolitische Klima symbolisiert: Ein zunehmend multipolares System, in dem Russland explizit seine Distanz zum Westen und seine Hinwendung zu neuen Partnern demonstriert.
Technologie als Staatsprojekt: Techno-Autarkie als oberste Prämisse
Der wirtschaftliche Glanz der Metropolen Moskau und Sankt Petersburg mag im Kontrast zum Alltag großer Landesteile in den Regionen stehen. Während in den urbanen Zentren digitale Innovationen, Start-ups und futuristische Technologien florieren, kämpft das „tiefere Russland“ unter anderem mit infrastrukturellen Herausforderungen und einem Abgang junger Fachkräfte. Trotz dieser Ungleichheit wächst das Kaufkraftparitäts-BIP Russlands beständig. Russland ist mittlerweile die größte Volkswirtschaft in Europa nach Kaufkraftparität — ein Umstand, den westliche Medien häufig unterschlagen. Das romantische Bild eines armen und zurückgebliebenen Russlands ist den europäischen und amerikanischen Medien anscheinend viel lieber.
Der russische Präsident Wladimir Putin nutzte das Forum, um die zentrale Stoßrichtung der russischen Wirtschaftspolitik zu unterstreichen: Technologische Autarkie als Mittel zur Sicherung nationaler Souveränität. Im Fokus beim SPIEF standen der Aufbau von Halbleiterfabriken, die Entwicklung eigener Betriebssysteme, Industriesoftware, Turbinen und Agrartechnologien. Dies geschah bewusst mit einem partnerschaftlichen Blick auf befreundete Länder, die sich vom westlichen Einfluss emanzipieren möchten.
Technologische Importe sollen sukzessive durch inländische Produktion ersetzt werden, damit Russland unabhängiger von geopolitischen Druckmitteln wird. Auch in den verschiedenen Panels zu regionalem Unternehmertum, Landwirtschaft, Tourismus und digitaler Infrastruktur zeigte sich das Land als Innovationslabor — nicht nur als Reaktion auf Sanktionen, sondern als langfristiger Strategiepfad.
Das Forum beherbergte ein heterogenes Spektrum an Persönlichkeiten. Die Reichen, Schönen und Mächtigen Russlands waren fast alle da. Ein paar russische Oppositionelle wie Ksenia Sobtschak oder der Führer der Partei „Novye Ljudy“ (zu Deutsch: Neue Leute) Wladislaw Dawankow, der letztes Jahr als Präsident kandidiert und zu einem Waffenstillstand in der Ukraine gerufen hatte, waren auch dabei als Gäste. Diese Vielfalt zeigt, dass in Russland ein Dialog mit der „Opposition“ existiert, auch wenn die politische Realität im Alltag, vor allem aufgrund des Kriegs in der Ukraine, restriktiver ist. Auch europäische Intellektuelle wie der Schweizer Roger Köppel und die deutsche Ulrike Guérot, die für eine Neuorientierung Europas plädieren, besuchten das Forum, um sich ein Bild von Russland selbständig zu machen.
Putins Rede
Einige Beobachter meinten, der Höhepunkt des Forums sei die Plenarrede des Präsidenten Wladimir Putin am dritten Tag der Veranstaltung gewesen. Diese Rede war definitiv wichtig, aber auf der Messe des Forums gab es noch viel anderes zu sehen. Sich nur auf die Rede Putins zu konzentrieren, klingt abschätzend gegenüber den Tausenden von Leuten, die beim Forum waren. Es mag viele in Europa überraschen, aber es geht nicht immer nur um Putin in Russland. Auf jeden Fall war Putins Rede beim SPIEF auch ein Spiegelbild der russischen Position zwischen nationalem Stolz, technologischer Ambition und geopolitischem Realismus.
Putin begann mit einem klaren ökonomischen Optimismus: Die russische Wirtschaft habe sich widerstandsfähig gezeigt, mit einem Wachstum von 1,5 Prozent im ersten Quartal 2025 und einer Inflation, die auf 9,6 Prozent gesunken sei. Das Land diversifiziere sich von einer Rohstoffökonomie hin zu einer wissensbasierten Volkswirtschaft, gestützt auf Fortschritte in Importsubstitution und Technologie. Putins Botschaft war deutlich: Rezessionsängste seien unbegründet. „Einige Fachleute und Experten weisen auf die Risiken einer Stagnation oder sogar einer Rezession hin. Dies darf unter keinen Umständen zugelassen werden“, so der russische Präsident.
Im geopolitischen Teil seiner Rede zeigte Putin Russland als Akteur eines neuen, multipolaren Weltsystems. Er attestierte hier einen „Neuen Kalten Krieg“ und den Verlust internationaler Legitimität. Die Zusammenarbeit mit BRICS-Staaten und dem Globalen Süden stellte er als aktives Projekt zur Umgestaltung der Weltordnung dar.
Eine besonders relevante Passage galt der Ukraine, wo Putin betonte: „Ich betrachte das russische und ukrainische Volk als ein Volk — die ganze Ukraine gehört uns.“ Mit Nachdruck drohte er bei einem Einsatz von sogenannten „schmutzigen Bomben“ durch Kiew mit verheerenden Gegenmaßnahmen.
Russlands Rolle im Nahen Osten: Vermittler oder nicht?
Ein wichtiger Abschnitt seiner Rede widmete Putin der Situation im Nahen Osten. Die Eskalationen zwischen Israel und Iran hätten nicht nur regionalen, sondern globale Bedeutung. Russland sei dabei kein bloßer Beobachter, sondern ein aktiver Vorschlagspartner, der „Ideen beiden Seiten vorlege“, ohne sich in die Rolle eines klassischen Mediators drängen zu lassen. „Ich halte das für eine vernünftige Position“, sagt Dmitry Babich, Journalist und Experte für internationale Beziehungen für russische Zeitung „Komsomolskaja Prawda“.
Putin betonte Russlands Neutralität, die tägliche Kommunikation mit beiden Regierungen und den Schutz russischer Arbeitskräfte am iranischen Kernkraftwerk Bushehr. Israel habe hierzu Sicherheitsgarantien abgegeben, so hatte zuvor Putin gemeldet. Die russische Atombehörde Rosatom teilte mit, dass noch etwa 600 russische Mitarbeiter am Bushehr-Kraftwerk tätig seien. Die Lage sei ruhig, dennoch werde die Situation genau beobachtet. Anschuldigungen israelischer Militärangriffe auf Bushehr wurden zurückgezogen. Diese diplomatische Rolle unterstreicht die Ambition Russlands, im Nahen Osten als Ordnungsmacht anerkannt zu werden, ohne sich jedoch in offene Konflikte hineinziehen zu lassen.
Im Januar 2025 hatten Russland und der Iran ein umfassendes 20-Jahres-Strategiepartnerschaftsabkommen unterzeichnet, das über Energienetze (Bushehr 2 und 3), Transportkorridore („Nord-Süd“-Achse), Rüstungskooperation bis hin zu gemeinsamen Bezahlsystemen reicht. Interessanterweise enthielt das Abkommen keine gegenseitige militärische Verteidigungsgarantie.
Mit dem Ausbruch der militärischen Auseinandersetzung zwischen Israel und Iran im Juni verschärfte sich die Lage dramatisch. Israel führte Luftangriffe auf iranische Infrastrukturen, darunter nahe Nuklearanlagen, während der Iran mit hunderten Raketen und Drohnen reagierte. Die EU reagierte mit diplomatischen Deeskalationsappellen, Genf-Verhandlungen und der Forderung nach Zurückhaltung.
Die aktuelle Eskalation im Nahen Osten wird in Russland als ein zweischneidiges Schwert gesehen. Einerseits gefährdet sie die Stabilität einer Region, in der Moskau strategische Interessen verfolgt. Andererseits würde die Rolle als Vermittler und neutraler Player die Möglichkeit bieten, internationales Ansehen und Einfluss auszubauen.
Putin hatte zuvor vor den Folgen eines Angriffs auf das Bushehr-Kraftwerk gewarnt. Ein solcher Angriff könnte eine nukleare Katastrophe auslösen, vergleichbar mit Tschernobyl. Die diplomatische Stellung Russlands in der Region — vor allem durch enge Kontakte zu Iran — macht Moskau zum unverzichtbaren Akteur in jedem zukünftigen Deeskalationsprozess.
Multipolarität als neue Weltordnung
Aber beim SPIEF ging es vor allem um die Wirtschaft. Die Veranstaltung markierte dieses Jahr Russlands Abkehr von einer reinen Opferrolle gegenüber westlichen Sanktionen. Stattdessen präsentierte sich das Land als aktive Ordnungsmacht in einem multipolaren System. Der Ausbau der Partnerschaften mit BRICS-Staaten und dem Globalen Süden ist kein bloßes Lippenbekenntnis, sondern Realität. Russland versteht sich zunehmend als Knotenpunkt eines globalen Netzwerks von Gegengewichten zu westlicher Dominanz. Die Rolle als Vermittler im Nahen Osten, trotz Ablehnung des klassischen Mediatoren-Labels, verdeutlicht diesen Anspruch. Gleichzeitig bleibt die Ukraine ein Pulverfass, das Russlands strategische Balanceakte in der internationalen Politik bestimmen wird. Aber im Allgemeinen herrschte in Sankt Petersburg an diesen Tagen eine bewundernswerte und beneidete Atmosphäre des Optimismus und der Resilienz.
«In Russland mangelt es nicht an Selbstvertrauen»