Der Frieden bleibt aus
Karelische See. Foto: Patrik Baab

Der Frieden bleibt aus

Warum der Krieg gegen Russland auch nach einem Einfrieren der Ukraine-Front nicht enden wird – und warum die EU-Eliten russisches Roulette spielen. Notizen von einer Reise nach Osten
Patrik Baab
Mo. 11 Aug 2025 1530 7

Mitte Juni 2025 habe ich eine Reise nach Russland angetreten, um Freunde in St. Petersburg, Moskau und Karelien zu besuchen. Es handelte sich im Wesentlichen um eine private Reise, obwohl mein Verleger in Moskau zwei Veranstaltungen für mich organisierte und einige Interviews mit der russischen Presse arrangierte. Vor einem halben Jahr hatte Gnosis, ein Verlag, der jenseits des Staates seinen eigenen Weg geht, meinen Bericht „On both Sides of the Frontline“ übersetzt und veröffentlicht, und ich war neugierig, was russische Leser und Medien dazu sagen würden. Aber es ging auch um andere Themen.

Glaubt man der deutschen Presse, kann dies nur eine Reise ins Herz der Finsternis gewesen sein, ins Zentrum des Bösen, zum Ursprung des Ukraine-Krieges und in das Reich eines fleischgewordenen Teufels, eines Drahtziehers namens Wladimir Putin und seiner blutrünstigen Anhänger. Aber die erste Überraschung war: Wo immer ich auftauchte, waren die Menschen in Russland freundlich, höflich, hilfsbereit und zeigten echtes Interesse an den politischen Entwicklungen in Westeuropa. Was für ein Unterschied zu Deutschland heute, wo Russophobie, Kriegstreiberei und Hass die politische Szene, die Medien und die Öffentlichkeit dominieren!

Die Hotel- und Restaurantbuchungen funktionierten gut; das Personal war freundlich und höflich; die Flüge und Expresszüge waren immer pünktlich; alle Gespräche verliefen respektvoll und auf hohem Niveau; der öffentliche Raum in den Städten war absolut sicher. Das ist ein großer Unterschied zu meinen Erfahrungen in den 1990er Jahren und noch kurz nach der Jahrtausendwende, als die russische Wirtschaft zusammengebrochen war und jeder irgendwie ums Überleben kämpfte, manchmal mit allen möglichen schmutzigen Tricks. 

Ich übersehe einen Zeitraum von mehr als 25 Jahren und kann versichern, dass sich vieles in Russland zum Besseren gewendet hat. Heute arbeiten Unternehmen und Verwaltung meist schnell und effizient, auch wenn manchmal etwas bürokratisch. Mein Eindruck war: In Russland herrscht heute Rechtsstaatlichkeit; das Problem sind die politischen Strafverfahren. Aber wenn wir auf die Europäische Union blicken, sehen wir ähnliche Missstände: Julian Assange verbrachte Jahre im Gefängnis wegen einer vorgeschobenen strafrechtlichen Verfolgung; die EU-Kommission sanktioniert Journalisten willkürlich und ohne rechtliche Grundlage; ein Gesetz über digitale Dienste führt in der EU grundgesetzwidrige Zensur ein und zerstört den demokratischen Informationsraum, indem es gegen sogenannte „Desinformation“ vorgeht. Wer mit dem Finger auf andere zeigt, auf den weisen drei Finger zurück.

 Das bedeutet nicht, dass Russland heute ein Paradies ist. Für viele Menschen hat der Lebensstandard noch nicht das Niveau der EU erreicht. Weitere Probleme sind die Anbindung der Regionen im hohen Norden und im Fernen Osten an die großen Städte sowie die große Kluft zwischen Stadt und Land. Die westlichen Sanktionen haben die Transportwege länger und teurer gemacht. Russlands Abkehr von Europa und seine erzwungene Hinwendung zu Asien erfordert erhebliche Investitionen in Eisenbahnverbindungen, Autobahnen, Öl- und Gaspipelines, Tankschiffe und neue atomgetriebene Eisbrecher, von denen derzeit zwei in den Werften von St. Petersburg gebaut werden.

Werft an der Newa in St. Petersburg. Foto: PB

Doch unversehens wurde meine Reise zu einem Ausflug ins Zentrum der Eskalation. Ich hatte den Eindruck, dass sich immer mehr Menschen fragen, was eigentlich mit diesen Deutschen los ist und dass die Wut steigt. Bislang unterschieden die Russen fein säuberlich zwischen dem deutschen Volk und seiner Regierung. Aber mittlerweile werden sie immer skeptischer: Wir haben ihnen die 27 Millionen Toten im Großen Vaterländischen Krieg vergeben – jetzt sehen wir wieder deutsche Panzer im Donbass. Wir haben ihnen die Wiedervereinigung erlaubt, und einige Jahre später haben sie alle Friedensversprechen des sogenannten „2+4-Vertrags“ vergessen. Wir haben unsere Truppen vollständig aus Deutschland abgezogen, und heute stationieren sie eine deutsche Panzerbrigade im Baltikum, ein klarer Verstoß gegen das NATO-Russland-Abkommen. Was haben wir diesen Deutschen angetan? Heute schließen sie uns Russen, die wir die Hauptlast des Krieges getragen haben, von den Feierlichkeiten zum Gedenken an den Sieg über Hitler aus.

 Hatte Marschall Schukow vielleicht Recht mit dem Satz, den er kurz nach dem Zweiten Weltkrieg gesagt haben soll: „Wir haben die Deutschen vom Faschismus befreit; das werden sie uns nie verzeihen.“

Schikanen an der Grenze

Ich nahm den Bus von Berlin nach Kaliningrad, von wo aus ich einen Flug nach St. Petersburg buchen wollte. Nach achtstündiger Nachtfahrt war das erste bemerkenswerte Erlebnis die Schikanen an der polnisch-russischen Grenze. Natürlich mussten wir Buspassagiere nicht wie die Autofahrer sechs oder sieben Stunden warten. Aber nach einer Wartezeit von zwei Stunden forderten uns die polnischen Zollbeamten auf, uns in einer Reihe aufzustellen und unsere Pässe vorzulegen. Dann wurden alle Reisenden mit russischem Pass erkennungsdienstlich behandelt und fotografiert. Anschließend wurden wir nacheinander zum Schalter gerufen. Dort mussten wir unseren Pass abgeben und wurden nach unserem vollständigen Namen gefragt. Viele Reisende waren mit dem Verfahren nicht vertraut, sprachen kein Polnisch und wurden herumkommandiert: Wir wollen euch Russen hier nicht, geht nach Hause, hinter den neuen Eisernen Vorhang.

 Im Juni letzten Jahres überquerte ich die Grenze zwischen Narva und Ivangorod in Estland. Plötzlich schloss der estnische Zoll ohne ersichtlichen Grund die Grenze. 300 Menschen, darunter auch kleine Kinder, mussten mehrere Tage lang ohne Toiletten und Duschen im Freien campen. Eine behinderte Frau im Rollstuhl, ein junger Russe und ich beschlossen spontan, einen privaten Fahrer zu engagieren, der uns zum 250 Kilometer südlich gelegenen Grenzübergang bei Vöru brachte, wo wir nach Mitternacht auf die russische Seite gelangten und dann den Nachtbus von Pskow nach St. Petersburg nahmen. Gezielte Schikanen überall.

Menschen warten vergeblich am Grenzübergang Narva, Estland. Foto: PB

Zwei Stunden später eine weitere Überraschung am russischen Zoll in Ivangorod. Aus Sicherheitsgründen wurden alle Personen mit einem ukrainischen Visum oder Stempel im Reisepass befragt. Einige Reisende waren ältere Russlanddeutsche, die vor Jahren in der Ukraine gearbeitet oder Verwandte dort besucht hatten. Sie versuchten, ihre Ängste zu verbergen: Werden wir zurückgeschickt? So auch die ältere Frau, die mir erzählte, dass sie in Berdjansk im Gebiet Saporischschja geboren wurde und später nach Deutschland ausgewandert war. Sie wollte ihre Schwester besuchen, die noch immer im Kriegsgebiet lebt: „Jeden Tag versuchen wir, miteinander zu telefonieren, und fast jeden Tag liegt sie unter Beschuss, und ich kann im Hintergrund durch den Hörer Granatenexplosionen hören. Dann schreie ich: Bist du noch da? Sie sucht oft in der Badewanne Schutz, die gepackte Tasche über dem Gesicht, aber sie will nicht weggehen. Sie sagt: Ich bin hier geboren, ich habe mein ganzes Leben hier verbracht, was soll ich woanders? Unter Tränen wünsche ich ihr dann viel Glück, sie soll auf sich aufpassen.“ Aber solche ukrainischen Terrorakte gegen Zivilisten und über all die ukrainischen Kriegsverbrechen, Morde und Folterungen in der Region Kursk berichtet die westliche Presse nicht. Als wir uns gegen Mittag am Busbahnhof von Kaliningrad verabschieden, winken wir uns zu.

Einschussloch im Geländewagen. Foto: PB

Eine blonde Frau mittleren Alters, die in Berlin arbeitet und alle drei Wochen ihre Eltern in der Oblast Kaliningrad besucht, half mir, ein Taxi zum Hotel zu finden. Aus irgendeinem Grund funktionierte meine russische Taxi-App nicht mehr. „Meine Eltern sind alt und pflegebedürftig, und bei meinen Besuchen putze ich für sie, gehe einkaufen und kümmere mich um den Garten. Aber mein Vater ist oft wütend auf mich, er kann nicht verstehen, dass ich nicht jede Woche vorbeikommen kann. Ich bin berufstätig, die Strapazen der Reise setze mir zu und für wöchentliche Fahrten sind mir die Tickets einfach zu teuer!“

Inzwischen kündigten Polen, die skandinavischen und baltischen Länder an, die Grenze zu Russland vollständig zu schließen. Reisenden nach Moskau, St. Petersburg oder Kaliningrad bliebe dann nur der Flug über Istanbul, Belgrad oder Baku, was die Reise viel teurer macht. Ich unterhielt mich weiter mit meiner Mitreisenden in den Fünfzigern, und sie sagte: „Das ist etwas, was mein Vater, der an Demenz leidet, nicht verstehen kann: Ich kann es mir nicht leisten, ihn jede Woche zu besuchen, und ich weiß nicht, wie ich in Zukunft die Ticketpreise für die Flüge bezahlen soll!“ Das ist das heutige Europa: durch die Erde ein Riss für diejenigen, die nichts mit dem Krieg in der Ukraine zu tun haben.

Der Grund für die Sanktionen und all die Schikanen scheint zu sein, dass die politischen Eliten der NATO alle persönlichen Beziehungen zwischen Menschen aus dem Westen und aus Russland unterbinden wollen. Jeder menschliche Kontakt soll zerstört werden, damit Propaganda, Kriegshetze und die von den Medien verbreitete Russophobie leichter in die Herzen und Köpfe der westlichen Bevölkerung eindringen können. Niemand soll erfahren, dass die Russen genauso friedliebende Menschen sind wie wir.

Boom trotz Krieg

 Aber die westlichen Eliten fürchten offenbar eine viel gefährlichere Bedrohung für die Loyalität der westlichen Wähler und Steuerzahler: Viele Berliner, die Kaliningrad, St. Petersburg oder Moskau besuchen, stellen fest, dass russische Städte heute viel sauberer sind als die deutsche Hauptstadt, dass die U-Bahn im Gegensatz zu ihrer Heimatstadt pünktlich und in einem engen Zeittakt fährt und dass die Zahl der Bettler und Obdachlosen drastisch zurückgegangen ist, während sie in Deutschland noch nie so hoch war.

 In Russland sieht man auf Schritt und Tritt: Das ganze Land ist in Bewegung. Auch wenn das Wohlstandsniveau oft noch niedrig ist, haben sich die Lebensbedingungen seit fast zwei Jahrzehnten kontinuierlich verbessert. Die Wirtschaft wächst jedes Jahr um 3 bis 4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Vielleicht ist Wladimir Putin nicht der Präsident der Herzen. Aber er liefert Ergebnisse – das ist das Geheimnis seiner Popularität.

Gleichzeitig schrumpft die deutsche Wirtschaft, die Verbraucherpreise steigen, große Teile der Bevölkerung verarmen, Unternehmen gehen in die Insolvenz oder wandern ab, und die Deindustrialisierung ist in vollem Gange – nicht nur in Deutschland. Laut Jamie Dimon, dem CEO des Kreditinstituts JPMorgan Chase, hat Europa seine internationale Wettbewerbsfähigkeit verloren: „Europa ist innerhalb von 10 bis 15 Jahren von 90 Prozent des US-BIP auf 65 Prozent zurückgefallen.“ Die meisten jungen Menschen in Russland setzen sich persönliche Ziele, entwickeln Ambitionen und streben nach Erfolg. Junge Menschen in Deutschland warten oft auf das Geld ihrer Eltern und versinken in jämmerlicher Frustration, weil sie sich durch Mikroaggressionen bedroht fühlen.

Nirgendwo sonst lässt sich der Aufschwung Russlands besser beobachten als auf dem St. Petersburger Internationalen Wirtschaftsforum, das regelmäßig Ende Juni stattfindet. In diesem Jahr nahmen mehr als 20.000 Besucher aus aller Welt an den Treffen und Diskussionen teil – mit Ausnahme der Vereinigten Staaten und Westeuropas. Nirgendwo sonst wird so deutlich: Die Macht der Weltwirtschaft verlagert sich immer mehr nach Osten, Russland verfolgt seine Hinwendung zu Asien, und in fast jedem Gespräch geht es um gemeinsame Projekte und Investitionen. Der Westen mag zwar geeint sein – aber er trennt sich durch die Sanktionen ab vom Rest der Welt, und auf globaler Ebene ist der Westen eine Minderheit, die wirtschaftlich immer schwächer wird.

Internationales Wirtschaftsforum St. Petersburg 2025. Foto: SPIEF

Russland hingegen ist vollständig in die Weltwirtschaft integriert und unterhält Handelsbeziehungen zu den meisten Ländern in Afrika, Asien und Amerika. Nur etwa 40 Länder schließen sich den Sanktionen des Westens gegen Russland an, aber mehr als 150 von insgesamt 193 Staaten in der Generalversammlung der Vereinten Nationen unterhalten Handelsbeziehungen mit dem größten Land der Erde. Dies zeigt, dass die USA und ihre europäischen Vasallen die Weltwirtschaft nicht mehr dominieren. Das ist ein Grund, warum die westlichen Sanktionen nicht funktionieren und zu einem Bumerang geworden sind, der insbesondere die europäischen Volkswirtschaften auf selbstmörderische Weise zerstört. Der andere Grund ist, dass Russland schon seit dem Anschluss der Krim nach dem Maidan-Putsch 2014 unter Sanktionen liegt und genug Zeit hatte, seine Wirtschaft wetterfest zu machen.

Die alten Finanzzentren, die Londoner City und die Wall Street, verlieren langsam an Macht, die neuen Zentren sind Singapur und Hongkong. Immer größere Teile des Handels zwischen Russland, China, Indien und anderen Ländern werden nicht mehr auf Basis des US-Dollars abgewickelt und finanziert, sondern in nationalen Währungen. Das bedeutet: Der wirtschaftliche Schwamm, der den Dollar weltweit aufsaugt, wird immer kleiner.

Die Vereinigten Staaten haben also immer größere Probleme, ihre eigene Inflation durch das Drucken von Dollars zu exportieren und ihren Staatshaushalt mit seinen enormen Militärausgaben zu finanzieren, die aber erforderlich sind, um die Welt zu dominieren. Das bedeutet, dass der Westen in Bezug auf das Wirtschaftswachstum durch die Fortsetzung des Ukraine-Krieges, die Sanktionen gegen Russland und die Androhung von Zöllen gegenüber anderen Ländern seinen eigenen Abstieg beschleunigt. Natürlich wird dieser Prozess etwa hundert Jahre dauern, aber Washington und seine Vasallen befinden sich in einem historischen Niedergang. Die NATO versucht, diesen globalen Wandel mit militärischen Mitteln zu stoppen, indem sie das Völkerrecht zerstört, illegale Kriege in Serbien, Irak, Libyen, Syrien und Iran führt und Regimewechsel und Staatsstreiche in Amerika, Afrika und den kaukasischen Ländern orchestriert. Aber das zeigt nur: Die NATO-Länder sind nicht in der Lage, den Wandel zu gestalten, indem sie den Tiger reiten. Am Ende wird der Westen seine Kräfte überstrapazieren und wie das Römische Reich vor fast zwei Jahrtausenden in der Flut versinken.

Zeichen einer Eskalation

Unterwegs mit dem Auto in Karelien Richtung Norden, fuhren wir auf einer Autobahn, die zu Sowjetzeiten eine „gesperrte Straße” war: Niemand durfte diese schnurgerade Straße benutzen außer Militärfahrzeugen, und man konnte diese Schnellstraße auf keiner Karte finden.  Heute umfahren wir auf dieser Straße viele Schlaglöcher, obwohl sie, wie unsere russischen Freunde berichteten, ständig repariert wird. „Der Grund ist, dass hier so viele schwere LKW nach Norden rollen. Beobachtet sie genau, die meisten dieser Fahrzeuge transportieren Baumaterialien, insbesondere Beton, und sie biegen alle auf sandige Wege ab, die in den Wald neben der Straße führen.“

Tatsächlich bogen die Lastwagen von der Straße ab, hielten meist an einer Schranke oder einem Kontrollpunkt, wurden durchgewunken und verschwanden zwischen den Bäumen. Sie transportierten den Beton für den Bau neuer massiver Raketensilos unter dem Blätterdach der karelischen Laub- und Nadelbäume. Ohne es vorher zu wissen, passierten wir das Zentrum der Eskalation in diesem neuen Kalten Krieg. Die hier stationierten neuen Mittelstreckenraketen sind auf Mitteleuropa gerichtet und können alle mit Atomsprengköpfen bestückt werden. Die Russische Föderation stärkt ihre Zweitschlagfähigkeit.

Etwa siebenhundert Kilometer westlich, in Litauen, hat Deutschland seine 45. Panzerbrigade mit 5.000 Soldaten in Dienst gestellt. Sie soll bis 2027 ihre volle Stärke erreichen. Milliarden Euro werden investiert, und ein deutscher Offizier sagt, „all das zeigt, dass wir für die nächsten 20 Jahre bleiben werden“.

Aber manche Soldaten der Bundeswehr vor Ort berichten, dass die Einheimischen nicht mit ihnen sprechen wollen und ihren Blick von ihnen abwenden: Die Älteren erinnern sich noch an deutsche Uniformen und die Gesichter der Nazi-Mörder. Die Jüngeren wissen genau, dass diese Soldaten schon bald einen neuen Krieg ins Baltikum bringen könnten, und in ihren Albträumen stellen sie sich ihr eigenes Land als neues Schlachtfeld vor. Vor allem von der russischen Minderheit in allen drei baltischen Ländern – in Lettland immerhin ein Viertel der Bevölkerung – werden deutsche Soldaten nicht als Beschützer, sondern als Vorboten der Hölle wahrgenommen. 

Deutsche und litauische Schützenpanzer. Foto: BW

Hinzu kommen die Drohnenangriffe nicht nur auf Moskau, sondern nun auch auf St. Petersburg. Vor kurzem wurde der Flughafen Pulkovo aufgrund einer Drohnenwarnung fast einen ganzen Tag lang geschlossen. Intern gehen die russischen Sicherheitsbehörden davon aus, dass diese Drohnen von Estland aus ins Ziel gelenkt werden. Öffentlich hält sich Moskau zurück, weil es eine NATO-Falle befürchtet: Wenn Russland gegen das NATO-Mitglied Estland zurückschlägt, kann der Westen Moskau die Schuld in die Schuhe schieben und die europäischen NATO-Partner auch offiziell in den Krieg hineinziehen, was der Kreml um jeden Preis vermeiden will.

Vor diesem Hintergrund werden Äußerungen von Präsident Trump, mit denen er direkte militärische Maßnahmen gegen Moskau und Peking angedroht hat, unter strategischen Gesichtspunkten genauestens geprüft. Geheimdienstanalysten und Außenpolitikexperten warnen, dass diese Drohungen, wenn sie für bare Münze genommen werden, defensive Mobilisierungen oder sogar Präventivmaßnahmen auslösen könnten. Das zentrale Dilemma ist somit das zwischen Glaubwürdigkeit und Kontrolle. Trumps Drohungen mögen darauf abzielen, Aggressionen durch die schiere Kraft der Rhetorik abzuschrecken, aber sie bergen auch die Gefahr, den Spielraum für Diplomatie, Krisenmanagement und Deeskalation zu verringern. In einer Zeit miteinander vernetzter Abschreckungssysteme und blitzschneller Militärtechnologien ist der Spielraum für Fehler gefährlich gering.

Was Pressemeldungen der NATO und der Bundeswehr als verstärkte Abschreckung gegen russische Aggressionen darstellen, erscheint aus Moskauer Sicht als eine weitere Provokation in einer langen Reihe gebrochener Versprechen und illegaler Kriege des Westens. Das bezeichnet man als Sicherheitsdilemma: Wenn sich eine Seite immer mehr bewaffnet, fühlt sich die andere Seite immer stärker bedroht und beginnt ebenfalls aufzurüsten, woraufhin sich die andere Seite wieder stärker bedroht sieht und ihre eigene Rüstung erneut verstärkt. Wie die Geschichte zeigt, führt dies meist in neue Kriege.

Der einzige Ausweg aus dem Sicherheitsdilemma führt über Abrüstungsverhandlungen, vertrauensbildende Maßnahmen und die Einhaltung von Vereinbarungen. Aber genau das will die NATO nicht tun. Die führende Macht des westlichen Bündnisses sind die Vereinigten Staaten. Washington hat diesen Prozess der Täuschung, Vertragsverletzungen, der Staatsstreiche und völkerrechtswidrigen Angriffskriege orchestriert. Das Ergebnis ist: Das Völkerrecht wurde durch das Faustrecht, durch geheime Operationen und eine Atmosphäre des Misstrauens zwischen den Führern der Großmächte ersetzt. Genau das ist die Situation, mit der wir derzeit konfrontiert sind, und genau das sind die Elemente eines neuen bewaffneten Konflikts. In diesem sich abzeichnenden globalen Spiel der Mutprobe sind die Risiken existenziell, und die Welt hält den Atem an, in der Hoffnung, dass keine Seite mit der Wimper zuckt.

Auf dem globalen Schachbrett erscheint die transatlantische Spaltung wie ein Mythos. Einerseits steht Präsident Trump zunehmend unter dem Druck der Neocons in der Republikanischen Partei und im Sicherheitsapparat. Dies zwingt ihn, seine Politik an den Deep State anzupassen, der von den Neocons dominiert wird und den Krieg gegen Russland in der Ukraine fortsetzen will. Andererseits ist der vorauseilende Gehorsam der transatlantisch korrumpierten Eliten in Europa bereits in eine Phase des Arschkriechens eingetreten.

Was wir in den Beziehungen zwischen den USA und den Europäern sehen, ist kein Konflikt unterschiedlicher strategischer Ziele, sondern eine Art Arbeitsteilung oder Jobsharing. Laut Nel Bonilla, einer Soziologin und Konfliktforscherin, „steigen die Verteidigungsbudgets auf beiden Seiten des Atlantiks im Gleichschritt, die Sicherheitsdoktrinen basieren auf denselben PowerPoint-Folien, und die EU, einst ein vermeintlich pazifistischer Zufluchtsort, hat heute einen größeren Anteil an den weltweiten Militärausgaben als Russland und China zusammen. Die Kluft ist rhetorischer Natur. Die Konvergenz aber ist materiell und wird durch die langsame Ausblutung der Sozialprogramme im eigenen Land finanziert.“

Die Argumentation lautet: Im Kampf um unsere liberalen, offenen und demokratischen Werte müssen wir unsere militärische Stärke ausbauen, da sogenannte autoritäre Regime eine Bedrohung darstellen. Diese Unabhängigkeitsrhetorik bricht jedoch nicht mit den strategischen Prioritäten der USA, sondern verlängert die Abhängigkeit vom Hegemon und greift dessen Interessen auf hervorragende Weise auf.

Washington beabsichtigt, den militärischen und wirtschaftlichen Druck auf China zu erhöhen und den Plan der Neocons für einen Regimewechsel in sieben Ländern des Nahen Ostens zu vollenden: Irak, Libyen, Syrien, Libanon, Somalia, Sudan und Iran. Kürzlich ist das Projekt im Iran gescheitert. Der illegale Angriff der israelischen Streitkräfte konnte die Urananreicherungsanlagen in Teheran nicht vollständig zerstören und keinen Zusammenbruch des Regimes herbeiführen, während Israel mit einem massiven iranischen Gegenschlag konfrontiert war, der das Land schwer traf. Aber morgen ist ein neuer Tag.

Neokonservativer Plan zum Regimewechsel. Grafik: ChatGPT

Die Militär-Interventionen des Westens haben das Völkerrecht zerstört. Nun werden Einflussbereiche abgesteckt: Das ist einerseits der Claim der USA, zu dem Westeuropa, Japan, Südkorea, Amerika, Grönland und Kanada gehören; alle übrigen Regionen der Erde sind Kampfzonen, in denen der Einfluss Russlands und Chinas eingedämmt werden muss. Offensichtlich in Absprache mit Washington wurde die ehemalige deutsche Außenministerin Annalena Baerbock als Präsidentin der UN-Generalversammlung eingesetzt, um sicherzustellen, dass die Interessen der Mehrheit blockiert und die Vereinten Nationen lahmgelegt werden. Transatlantisch korrumpierte Eliten werden als Erfüllungsgehilfen eingesetzt, um die Politik der Vereinigten Staaten durchzusetzen.

Überall auf der Welt wird der Kampf zwischen der Hegemonialmacht USA und ihrer Vasallen um den Erhalt einer unipolaren Welt und den BRICS-Staaten, die eine multipolare Welt anstreben, fortgesetzt.

Seit mehr als zwei Jahrzehnten, spätestens seit der sogenannten „Orangen Revolution“ im Jahr 2004 haben die Vereinigten Staaten begonnen, die Ukraine zu einer amerikanischen Kolonie zu machen. Die Briten und die EU-Länder wollten die Rolle der Nutznießer in einer Art Trittbrettfahrer-Imperialismus spielen. Aber der Westen hat die militärische Macht und Entschlossenheit Russlands unterschätzt.

Dabei ist es Washington nicht gelungen, sich durchzusetzen, und deshalb plant die Trump-Regierung nun, den Krieg in der Ukraine zu europäisieren. Ob die Europäer Krieg oder Frieden in der Ukraine wollen, ist ihre Sache. Die Waffen für endlose Kriege können sie gerne in den USA kaufen. Washington wird die Ukraine als Verlustgeschäft abschreiben. Die europäischen Vasallen werden die Rechnung bezahlen müssen – sowohl für den Krieg als auch für den Wiederaufbau. Das Imperium besteht weiter, die europäischen Eliten fungieren als Gouverneure, und die Hegemonialmacht erhöht den Tribut für ihre Vasallen, indem sie ihnen amerikanische Waffen, Munition und jede Menge Flüssiggas verkauft. Ist das nicht schön?

Zurück nach Karelien. Diese Region im hohen Norden und der Finnische Meerbusen werden immer mehr zu den nächsten Orten, an denen die NATO und Russland ihre Kräfte messen. Washington will die Ostsee zu einem Mare Nostrum der NATO machen, indem es Russland den Zugang zum Atlantik versperrt. Nachdem der Westen den Krieg in der Ukraine vorerst verloren hat, eröffnet er mit Schweden und Finnland als neuen Mitgliedern des Bündnisses eine neue Front gegen Moskau in Skandinavien. Die Vorbereitungen für die nächste Auseinandersetzung laufen.

Verzweifelte Diskussionen

In Moskau organisierte mein Verleger zwei Diskussionsrunden. Die erste fand in einer kleinen Galerie für moderne Kunst statt und drehte sich um die Lebensbedingungen der Menschen in der Ukraine, die aktuelle Lage an der Front und um die Aussichten auf Frieden in Europa. Viele Medienvertreter waren an diesem Abend anwesend: Ich habe mit Journalisten von TASS, Gazeta, Russia Today und „Papotschka Kanzlera“ gesprochen, einem audiovisuellen Telegram-Kanal um die Moderatorin Marina Zakamskaja, der sich mit deutscher Politik befasst. Das Publikum in der Hauptstadt zeigte großes Interesse, war gut informiert und offen für alle gut begründeten Argumente. Was für ein Unterschied zu Berlin, wo viele Diskussionen von pro-ukrainischen Kriegstreibern und pro-NATO-Provokateuren gestört werden, die Debatten meist sehr emotional werden und die Grundlage für einen vernünftigen Gedankenaustausch oft verloren geht. 

Europa-Institut in Moskau mit Patrik Baab und Prof. Ulrike Guérot, Foto: UH

Diese moderne Form der Dummheit und der Regress im westlichen Denken passt genau zur kognitiven Kriegsführung der NATO, die auf die Gedanken und Gefühle der Menschen abzielt und einen Angriff auf das menschliche Gehirn darstellt. Ängste und Emotionen werden mobilisiert, um Ressentiments wie einen Vorhang vor die Vernunft zu schieben und so das Denken zu trüben: Ein Spiel, das auf der Erkenntnis basiert, dass hochintelligente Menschen sich wie Verrückte verhalten, wenn emotionale Widerstände ihren Verstand überwältigen.

Was bleibt, ist der Eindruck: Die russischen Teilnehmer beschäftigen sich mit vernunftgeleiteten Erkenntnissen, während das deutsche Publikum sich oft mit Bekenntnissen beschäftigt – in Moskau Aufklärung, in Berlin Ressentiments. Der Westen ist im Zeitalter der Gegenaufklärung angekommen. Wie tief ist Deutschland gesunken!

Ein paar Tage später habe ich am Europa-Institut der Russischen Akademie der Wissenschaften zum Thema „Deutschland - quo vadis?“ diskutiert. Viele Studenten und russische Historiker nahmen an der Debatte teil, alle gut gekleidet und gut informiert, bereit für eine ernsthafte Diskussion. Die Reden konzentrierten sich meist auf einen Punkt: Wie kann man die deutsch-russischen Beziehungen wiederbeleben und einen Prozess wieder in Gang bringen, der zu einer paneuropäischen Sicherheitsarchitektur von Lissabon bis Wladiwostok führt? Es wurde auch ein Blick zurück im Zorn.

Das Ergebnis war immer dasselbe: Washington will die Sicherheitsinteressen Russlands nicht respektieren, die USA wollen Russland schwächen und destabilisieren, wie die RAND Corporation schrieb, die europäischen Länder begehen Selbstmord, und die westliche Hegemonialmacht will einen Regimewechsel in Russland provozieren. Genau das ist für die russische Regierung und für fast jeden Russen inakzeptabel.

In Russland ist der britische Geograf Halfort Mackinder kein Unbekannter: „Wer Osteuropa beherrscht, beherrscht das Herzland, wer das Herzland beherrscht, beherrscht die Weltinsel, wer die Weltinsel beherrscht, beherrscht die Welt.“ Mackinder formulierte diesen Satz 1919, aber seine Theorie entwickelte er bereits 1904 in der Royal Geographic Society in London. Nach dem Zweiten Weltkrieg präzisierten amerikanische Geopolitiker wie Zbigniew Brzezinski diese Überlegungen. Die gesamte aktuelle amerikanische Außenpolitik basiert auf der Idee, dass eine große Seemacht nur durch die Aufteilung der eurasischen Landmasse dominant sein kann. Mit den Worten von Lord Ismay, dem ersten Generalsekretär der NATO, wurde das Bündnis gegründet, um „die Sowjetunion draußen, die Amerikaner drinnen und die Deutschen unten zu halten“. Natürlich hat dieser politische Ansatz die Sowjetunion überlebt und war bis heute sehr erfolgreich.

Karte zu Mackinders Heartland-Theorie

Fast alle Redner im Moskauer Europa-Institut forderten eine neue europäische Sicherheitsarchitektur, die Russland einbezieht und sich nicht nach amerikanischen Interessen ausrichtet. Am Horizont zeichnete sich die konkrete Utopie eines unabhängigen Europas ab, das sich nicht zum Sklaven Washingtons degradieren lässt und auf das die Kosten des US-Imperialismus ausgelagert werden, sondern das zur Politik Otto von Bismarcks zurückkehrt: „Wenn Russland und Deutschland Freunde sind, geht es Europa gut.“

Denn wir erleben als Augenzeugen den Kampf zwischen dem Konzept einer unipolaren Welt mit den Vereinigten Staaten als Hegemonialmacht und den Kräften um Russland und China, die in ihrem eigenen Interesse eine multipolare Welt anstreben. Das erste Konzept bedeutet, dass der Hegemon die Regeln festlegt und alle anderen mit militärischer Macht zwingt, diese Regeln zu befolgen, wie der griechische Autor Thukydides in seiner Geschichte des Peloponnesischen Krieges schrieb: „Die Starken tun, was sie wollen, und die Schwachen erdulden, was sie müssen.“ Im Gegensatz dazu bedeutet das multipolare Konzept, dass die Großmächte die Regeln aushandeln und eine allgemein akzeptierte Vereinbarung treffen müssen. Auch wenn bei Thukydides die überlegenen Athener letzten Endes die schwächeren Melier vernichten, kann das multipolare Konzept eine kontrafaktische Gültigkeit beanspruchen. Und wir haben noch nicht das Ende der Geschichte erreicht.

Leichenzählen unter Birken

Als wir weiter in den Norden kamen, sahen wir Friedhöfe mit frischen Gräbern unter russischen Flaggen, oft geschmückt mit dem schwarz-orangenen St.-Georgs-Band, einem Zeichen für den Sieg im Großen Vaterländischen Krieg. Die sogenannte Spezielle Militär-Operation hat die großen Städte kaum erreicht, wo man oft nur Werbung für die Subskription bei der Armee sieht, sondern ist in Karelien und Dagestan und allen anderen Randgebieten viel deutlicher sichtbar, wo die Ärmeren leben und die Versuchung, sich für Geld zum Militärdienst zu melden, größer zu sein scheint.

Abonnementanzeige in St. Petersburg. Foto: PB

 Eine im Juni 2025 veröffentlichte Studie des US-amerikanischen Zentrums für strategische und internationale Studien beziffert die Gesamtzahl der Todesopfer im Ukraine-Krieg auf 1,4 Millionen. Obwohl die tatsächlichen Zahlen auf beiden Seiten streng geheim sind, werden die meisten Opfer auf ukrainischer Seite verzeichnet, da die ukrainischen Streitkräfte in Bezug auf Artillerie, Raketen, Drohnen und Personal unterlegen sind. Aber das Grauen reicht offenbar noch nicht aus: Washington will, dass die Europäer den Druck auf Russland aufrechterhalten und verstärken, während es sich selbst anderen Kriegsschauplätzen im Nahen Osten und in der Straße von Taiwan zuwendet. Wir liefern die Waffen, ihr liefert die Leichen – dieses zynische Spiel der Stellvertreterkriege wird weitergehen. Wenn die Ukraine ausblutet und nicht mehr kämpfen kann, wird Deutschland in die Schützengräben gedrängt werden. Die Zeit ist nicht mehr fern, in der wie beim Boxeraufstand 1900 in China wieder der Befehl erteilt wird: Die Deutschen an die Front!

Aber die Ironie der Geschichte ist: Je mehr der Westen mit militärischen Mitteln gegen seinen eigenen Niedergang kämpft, desto schneller wird dieser Niedergang voranschreiten – zu viel Panzer, aber zu wenig Hirn. Am Ende des geopolitischen Dramas wird Europa zum Hinterhof der Vereinigten Staaten werden – und auch zum Hinterhof Russlands.

Ein weiterer Aspekt soll hier nicht unterschlagen werden. Nicht jeder ist gegen diesen Krieg, sonst wäre er längst vorbei, ja sonst hätte er gar nicht erst begonnen. Diejenigen, die nicht an die Front müssen und vom Krieg profitieren, sind dafür. Wie Rosa Luxemburg schrieb: „Die Dividenden steigen, und die Proletarier fallen.“

Auch in diesem Punkt ist die transatlantische Spaltung ein Mythos. Auf beiden Seiten des Atlantiks gibt es zahlreiche Profiteure des Krieges, vor allem im militärisch-industriellen Komplex und in der Finanzindustrie. Aber für die Amerikaner ist es ein Stellvertreterkrieg, weit weg in Europa, und nur Europäer sterben. Für die Europäer hingegen ist es russisches Roulette, und wir alle sind der Einsatz. 450 Millionen Menschen in der EU werden von ihren politischen Eliten in Geißelhaft genommen.

Der Kapitalismus ist eine gewinnorientierte Wirtschaft, die immer neue Kredite vergeben muss, um das System am Laufen zu halten. Für die Vergabe neuer Kredite sind neue Sicherheiten erforderlich. Neue Sicherheiten bedeuten neue Gewinnaussichten: Öl- und Gasreserven, Mineralien, Schwarze Erde, billige Arbeitskräfte, effizientere Fertigungsprozesse, neue Absatzmärkte. Es ist ein endloser Kampf gegen den tendenziellen Fall der Profitrate – und ein Schneeballsystem. Nach der Finanzkrise im Jahr 2008 haben die Zentralbanken das zusammenbrechende kapitalistische Finanzsystem am Leben erhalten, indem sie Geld gedruckt und frisches Kapital in den Wirtschaftskreislauf gepumpt haben. Aber der Preis dafür ist eine permanente Krise. Die Leiche des Finanzkapitalismus wird künstlich am Leben erhalten, wie ein Patient an einer Herz-Lungen-Maschine. Über diesen Zentralbank-Kapitalismus sind schon Bücher geschrieben worden.

Ponzi Schema

Nun stehen die Europäer unter doppeltem Druck, befinden sich in einer Art Sandwich-Position: Die russische Armee und die Donbass-Milizen haben ihre Expansion nach Osten und ihre Gier nach neuen Sicherheiten zur Stabilisierung ihres Bankensystems und ihrer Wirtschaft gestoppt. Gleichzeitig hat die US-Hegemonialmacht Europa als wirtschaftlichen Konkurrenten ausgeschaltet – durch die Sprengung der Nord Stream-Pipeline, die die Verbündeten zu höheren Militärausgaben zugunsten amerikanischer Unternehmen zwingt, und durch die selbstmörderischen Sanktionen gegen Russland. Das erklärt, warum die europäischen Eliten sich als besonders aggressive Kriegstreiber betätigen – für sie geht es um ihr eigenes Überleben. Sie haben ihre eigenen Länder in eine Sackgasse manövriert und können nicht mehr umkehren, ohne für ihre falschen Entscheidungen zur Verantwortung gezogen zu werden. Sie würden mit dem zusammenbrechenden Finanzkapitalismus untergehen.

Die vorübergehende Niederlage des Westens im Ukraine-Krieg hat den Expansionsdrang vorübergehend gestoppt. Aber der Kampf um die Zerstörung und wirtschaftliche Ausbeutung Russlands wird an anderen Fronten weitergehen. Jeder versteckte Ort auf der Erde muss in die Profitmaschine einbezogen werden. Vorläufig muss nun die Ausbeutungsrate der abhängigen Arbeitnehmer und der Mittelschicht erhöht werden. Der nie endende Krieg zwischen der untergehenden unipolaren und der aufstrebenden multipolaren Welt ist auch ein Klassenkampf – ein Krieg gegen die Mehrheit der hart arbeitenden Menschen in den westlichen Metropolen. Die Reichen kämpfen gegen die Armen, das der Faktor Kapital kämpft gegen den Faktor Arbeit, die USA kämpfen gegen ihre europäischen Vasallen und beide gegen den Rest der Welt – ein Rattenrennen um den höchstmöglichen Profit.

George Orwell, Grafik: ChatGPT

George Orwell schrieb in seinem dystopischen Roman „1984“ in weiser Vorausschau: „Der Krieg ist daher, wenn wir ihn nach den Maßstäben früherer Kriege beurteilen, lediglich eine Täuschung. Er gleicht den Kämpfen zwischen bestimmten Wiederkäuern, deren Hörner in einem solchen Winkel stehen, dass sie sich gegenseitig nicht verletzen können. Aber obwohl er unwirklich ist, ist er nicht bedeutungslos. Er verschlingt den Überschuss an Konsumgütern und trägt dazu bei, die besondere mentale Atmosphäre zu bewahren, die eine hierarchische Gesellschaft braucht. Der Krieg ist heute, wie man sehen wird, eine rein interne Angelegenheit. In der Vergangenheit kämpften die herrschenden Gruppen aller Länder, obwohl sie ihre gemeinsamen Interessen erkannten und daher die Zerstörungskraft des Krieges begrenzten, gegeneinander, und der Sieger plünderte immer den Besiegten. Heutzutage kämpfen sie gar nicht mehr gegeneinander. Der Krieg wird von jeder herrschenden Gruppe gegen ihre eigenen Untertanen geführt, und das Ziel des Krieges ist nicht die Eroberung oder Verhinderung von Gebietsgewinnen, sondern die Aufrechterhaltung der Gesellschaftsstruktur. Das Wort „Krieg“ selbst ist daher irreführend geworden. Es wäre wahrscheinlich zutreffend zu sagen, dass der Krieg durch seine Kontinuität aufgehört hat zu existieren.“ Deshalb muss der Krieg weitergehen. Es ist ein Klassenkampf und gleichzeitig der Kampf des westlichen Imperialismus gegen sein eigenes Ende. Es wird Amerikas letzter Krieg sein. Auch deshalb werden wir noch sehr viel mehr Blut sehen.

Nelson Algren. Grafik: ChatGPT

1942 veröffentlichte der amerikanische Schriftsteller Nelson Algren seinen zweiten Roman: „Never come morning“. Von Carl Weissner wurde er kongenial ins Deutsche übersetzt: „Nacht ohne Morgen.“ Algren beschrieb darin die Welt der Alkoholiker, Zuhälter, Prostituierten, Freaks, Drogenabhängigen, Preisboxer, korrupten Politiker und Ganoven. Das ist die Welt, in der wir angekommen sind, und in dieser Show sind wir die Hauptfiguren. Nach dem bevorstehenden Krieg ist unsere Perspektive die der „halben Hemden“ – ein Slangausdruck für Männer auf Rädern, die im Krieg ihre Beine verlren hatten, und denen Algren ein Gedicht gewidmet hat. Ich habe solche Mineninvaliden gesehen, wie sie in schmutzigen Bettlaken lagen, mit ihren blutgetränkten Verbänden, und nach ihren Müttern schrien. Deshalb habe ich Algrens Titel gestohlen und abgewandelt: Der Frieden bleibt aus.

Minenwarnung im Donbass. Foto: PB

Als ich ein paar Tage später von Russland nach Deutschland zurückkehrte, war ich schockiert, als ich mein Heimatland betrat: Ich hatte das Gefühl, dass die Bundesrepublik von einer Schicht aus Schimmel, Erschöpfung und Resignation bedeckt war. Der Wille der Deutschen scheint gebrochen zu sein – ein Land ohne jegliche Opposition. Auch das ist ein Zeichen des Verfalls und des kulturellen Untergangs. Nelson Algrens Welt ist die Welt der Verlierer – unsere Welt. Die Gewinner sind woanders.

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«Der Frieden bleibt aus»

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