Ist Deutschland souverän? - Kann Deutschland neutral werden?

Ist Deutschland souverän? - Kann Deutschland neutral werden?

Versuch einer Klärung - Die Frage nach der Souveränität Deutschlands ist ein schwieriges, die Bevölkerung existenziell betreffendes Thema, das von offizieller Seite vermieden wird. Aber es wäre an der Zeit, es in den öffentlichen Diskurs einzubringen, was aktuell von mehreren Friedensorganisationen versucht wird.
Sa. 08 Nov 2025 1347 2

Jüngst ist der Ruf nach einer Neutralität Deutschlands aufgekommen,[1] die bereits 1952 von Stalin vorgeschlagen worden war. Damals unterbreitete er den anderen drei Hauptsiegemächten des Zweiten Weltkriegs das Angebot, über einen Friedensvertrag mit Deutschland zu verhandeln. Bedingung war die Neutralität eines künftigen vereinten Deutschlands, die unter polnischer Verwaltung stehenden Ostgebiete ausgenommen. Da zur selben Zeit unter der Regierung Adenauer in Geheimverhandlungen bereits die Wiederbewaffnung und der Beitritt zur NATO beschlossen wurden, boykottierten die westlichen Alliierten den sowjetischen Vorschlag. Auch Konrad Adenauer wies ihn als unseriöses „Störmanöver“, mit dem die Westintegration der BRD blockiert werden sollte, zurück und vergab damit die Chance für eine selbstbestimmte deutsche Politik.

Stattdessen blieben die beiden deutschen Relikte, denen von den Siegermächten nach der bedingungslosen Kapitulation die Souveränität aberkannt worden war, unter Fremdbestimmung, die erst nach und nach gelockert wurde. Nach herrschender Meinung erhielt dann die Bundesrepublik Deutschland als „mit dem Deutschen Reich identisches Völkerrechtssubjekt“[2] durch den Zwei-plus-Vier-Vertrag vom 12. September 1990 die „volle Souveränität“ zurück (Artikel 7 Absatz 2), sodass – theoretisch – eine Neutralität Deutschlands heute erreichbar wäre.

Das ist die offizielle Faktenlage.[3] Aber die Zubilligung der Souveränität ist durch Zusatzverträge, zum Beispiel den Truppenstationierungsvertrag, die NATO-Mitgliedschaft, das Militärbündnis für „Ständige Strukturierte Zusammenarbeit“ (PESCO)[4], sonstige militärische und wirtschaftliche Vereinbarungen sowie die übergeordnete EU-Gesetzgebung relativiert worden. Insbesondere der außenpolitische Handlungsspielraum ist aufgrund der alliierten Vorbehaltsrechte und Einflussmöglichkeiten eingeschränkt.[5]

Zwar können Abkommen wie der Truppenstationierungsvertrag oder der NATO-Vertrag gekündigt werden, Deutschland könnte auch aus der EU austreten, es ist jedoch außerordentlich fraglich, ob eine deutsche Regierung diesen Schritt wagen würde bzw. sich gegenüber den USA und Großbritannien behaupten könnte. Bekannt ist außerdem, dass sich die USA an keine Verträge halten, sobald sie ihrer jeweiligen Regierung nicht mehr passen.

Der CDU-Politiker Wolfgang Schäuble[6], der die deutsche Politik jahrzehntelang maßgeblich mit geprägt hat, sagte am 18. November 2011, also zwanzig Jahre nach der sogenannten Wiedervereinigung und dem Zwei-plus-Vier-Vertrag, anlässlich des „European Banking Congress“ in Frankfurt am Main:

„Die Kritiker, die meinen, man müsse eine Kongruenz zwischen allen Politikbereichen haben, die gehen ja in Wahrheit von dem Regelungsmonopol des Nationalstaates aus. Das war die alte Rechtsordnung, die dem Völkerrecht noch zugrunde liegt mit dem Begriff der Souveränität, die in Europa längst ad absurdum geführt worden ist, spätestens in den zwei Weltkriegen der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts. Und wir in Deutschland sind seit dem 8. Mai 1945 zu keinem Zeitpunkt mehr voll souverän gewesen.“[7]
Wolfgang Schäuble

Das ist die Meinung eines erfahrenen Politikers.

Im Völkerrecht ist Souveränität nach älterer Rechtsauffassung die absolute Hoheit eines Staates über sein innen- und außenpolitisches Handeln.[8] Das ist für Deutschland erkennbar nicht gegeben. Doch nach neuerer völkerrechtlicher Auffassung kann ein Staat durch Verträge mit anderen Staaten von bestimmten Rechten absehen, also eine Einschränkung seiner Souveränität selbstbestimmt vornehmen. Das könnte für Deutschland infrage kommen. Allerdings sind verschiedene Einschränkungen, denen Deutschland unterliegt, nicht selbstbestimmt.

Daher stellen sich folgende Fragen:

1.  Kann ein Land, dessen Bevölkerung ständig belogen, betrogen und gedemütigt wird, das keinen Friedensvertrag hat und nach der Charta der Vereinten Nationen (Artikel 53 und 107) immer noch ein Feindstaat gegenüber den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs ist, souverän sein? Die Feindstaatenklausel besagt, dass Zwangsmaßnahmen ohne besondere Ermächtigung durch den UN-Sicherheitsrat verhängt werden könnten, was militärische Interventionen einschließt, falls Deutschland erneut eine aggressive Politik verfolgen sollte. Was das bedeutet, ist weit auslegbar, und die Auslegung würde gegebenenfalls von den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs erfolgen, also maßgeblich von den USA.

2.  Kann ein Land mit elf riesigen Militärstützpunkten der USA, die permanent ca. 37.000 Soldaten in Deutschland unter Waffen halten (u.a. Atomwaffen) und zu internationalen Konferenzen auf ihre Militärbasis Ramstein einladen, von der aus sie Drohnenmorde befehligen, souverän sein?[9]

3.  Kann ein Land, in dem sich die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs immer noch Befugnisse vorbehalten haben, souverän sein? Es besteht die Auffassung, dass nach wie vor ein sogenanntes „versteinertes Besatzungsrecht“ gilt,[10] das heißt „Besatzungsrecht, welches bei Abschluss des ‚Überleitungsvertrags‘ keinerlei Disposition für die deutsche Staatsgewalt unterlag“, und von dem einzelne Bestimmungen weiterhin in Kraft bleiben.[11]

4.  Kann ein Land, dem widerspruchslos die günstige Energiezufuhr aus Russland abgeschnitten wird, das sich ständig Vorschriften machen und von der EU-Kommission nachteilige Gesetze aufzwingen lässt, souverän sein?

Die Frage nach der Souveränität Deutschlands ist ein schwieriges, die Bevölkerung existenziell betreffendes Thema, das von offizieller Seite vermieden wird. Aber es wäre an der Zeit, es in den öffentlichen Diskurs einzubringen, was aktuell von mehreren Friedensorganisationen versucht wird.

Fazit

Vielleicht könnte man sagen, Deutschland sei nicht vollständig souverän (falls es überhaupt eine unvollständige Souveränität gibt), und mit einer selbstbewussten, eigenständig agierenden Regierung wäre eine zumindest annähernde Souveränität im Sinne einer neueren völkerrechtlichen Auffassung zu erreichen. Aber unter Berücksichtigung der genannten Umstände liegt der Schluss nahe, dass die deutsche Regierung nicht selbstbestimmt zum Wohle der Bevölkerung zu handeln vermag, Deutschland also nicht souverän in dem Sinne ist, wie es im Zwei-plus-Vier-Vertrag kodifiziert wurde.

Insofern stehen der Verwirklichung einer deutschen Neutralität, wodurch viele der heutigen Probleme zu lösen wären, die derzeitigen realen Bedingungen entgegen. Intensive diplomatische Bemühungen auf höchster Ebene wären nötig, um den Weg in eine friedlichere Zukunft vorzubereiten. Dafür besteht zurzeit wenig Hoffnung. Aber trotz nahezu unüberwindlich erscheinender Hürden sollte das Ziel, die Souveränität und Neutralität Deutschlands, nicht aus den Augen verloren werden. In dieser Hinsicht gibt es verdienstvolle, zu unterstützende Ansätze.[12]

 

Der Schriftsteller und Publizist Dr. jur. Wolfgang Bittner lebt in Göttingen. Er hat mehr als 80 Bücher veröffentlicht, und kürzlich ist sein Buch „Geopolitik im Überblick. Deutschland-USA-EU-Russland“ erschienen. Er ist Erstunterzeichner des Aufrufs zur Neutralität Deutschlands.

 

Anmerkungen und Quellen

1.   Siehe http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=29559&css

2  Vgl. www.bundestag.de/webarchiv/presse/hib/2015_06/380964-380964

3  Dazu eingehend, aber schwach in der Argumentation, die Wissenschaftliche Dienste des deutschen Bundestages, „Überleitungsvertrag und ‚Feindstaatenklauseln‘ im Lichte der völkerrechtlichen Souveränität der Bundesrepublik Deutschland“: www.bundestag.de/resource/blob/414956/52aff2259e2e2ca57d71335748016458/wd-2-108-06-pdf-data.pdf

4  Vgl. Spiegel online, 13. November 2017, www.spiegel.de/politik/ausland/bruessel-23-eu-staaten-gruenden-pesco-zusammenarbeit-bei-verteidigung-a-1177685.html

5 Dazu Sebastian Fries, „Zwischen Sicherheit und Souveränität: Amerikanische Truppenstationierung und außenpolitischer Handlungsspielraum der Bundesrepublik Deutschland“, https://edoc.bbaw.de/opus4-bbaw/frontdoor/deliver/index/docId/359/file/26PiNaLFNd6L_327.pdf

6  Schäuble (1942-2023) war von 1984 bis 1989 Bundesminister für besondere Aufgaben und Chef des Bundeskanzleramts, von 1989 bis 1991 und wieder von 2005 bis 2009 Bundesminister des Innern. Von 2017 bis 2021 war er Präsident des Deutschen Bundestages.

www.youtube.com/watch?v=hdg8_9diL2E  (abgerufen am 15.10.2025)

8  Vgl. dazu: Burkhard Schöbener (Hrsg.), „Völkerrecht. Lexikon zentraler Begriffe und Themen, C.F. Müller, Heidelberg 2014, S. 393.

9.  Dazu Wolfgang Bittner, „Niemand soll hungern, ohne zu frieren“, Verlag zeitgeist, Höhr-Grenzhausen 2024, S. 63 ff.

10 Siehe ebd.: „Überleitungsvertrag und ‚Feindstaatenklauseln‘ im Lichte der völkerrechtlichen Souveränität der Bundesrepublik Deutschland“, S. 7.

11 Dazu im Einzelnen: https://de.wikipedia.org/wiki/Überleitungsvertrag (abgerufen am 15.10.2025).

12 Siehe https://deutschlandneutral.de

2 Kommentare zu
«Ist Deutschland souverän? - Kann Deutschland neutral werden?»
Übersetzen nach
close
Loading...